Ebook - Psychologie, Psychiatrie - Auszug - Die Behandlung Von Borderline-Persönlichkeitsstörungen(1).pdf

(247 KB) Pobierz
400107
Psychotherapeut
2000 · 45:271–285 © Springer-Verlag 2000
Übersicht
Redaktion
C. Reimer, Gießen
B. Strauß, Jena
Jochen Eckert 1 · Birger Dulz 2 · Corinna Makowski 2
1 Psychologisches Institut III der Universität Hamburg
2 Klinikum Nord/Ochzenzoll, 4. Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Hamburg
Die Behandlung
von Borderline-Persönlichkeits-
störungen
Zusammenfassung
Die Theorie der Borderline-
Störung
„Nach anfänglichem Zögern wurde eine
kurze Beschreibung der Borderline-Persön-
lichkeitsstörung … schließlich doch noch
einbezogen,auch hier in der Hoffnung,die
Forschung zu stimulieren.“
Bereits 1681 beklagte sich ein englischer
Arzt in einem Brief über Patienten, die ohne
jedes Maß jene lieben, die sie alsbald ohne
jeden Grund hassen würden. Weiterhin seien
plötzliche Ausbrüche von Wut, Schmerz,
Angst oder ähnlichen Emotionen zu beob-
achten.
Mit dieser frühen Beschreibung typischer
Borderline-Symptome wird die Darstellung
der Entwicklung der Theorie der Borderline-
Störung von den Anfängen bis heute einge-
leitet. Vor diesem Hintergrund werden der
Stand der Diagnostik und die derzeit wich-
tigen Behandlungskonzepte umrissen, und
zwar die psychodynamischen, verhaltens-
therapeutischen und klientenzentrierten
Ansätze. Es wird dargelegt, welche Antwor-
ten es auf die Frage gibt, was das angemes-
sene therapeutische Setting ist, insbeson-
dere mit Blick auf stationäre Behandlungs-
konzepte. Die vorliegenden empirischen
Studien bestätigen die Wirksamkeit von
Psychotherapie bei Borderline-Störungen.
Die geringe Zahl der Studien belegt aber
auch die Schwierigkeit der empirischen For-
schung in diesem Bereich. Der abschließen-
de Ausblick in die Zukunft der Psychothera-
pie der Borderline-Persönlichkeitsstörun-
gen prognostiziert eine weitere Zunahme
von Persönlichkeitsstörungen im Spektrum
psychiatrischer Erkrankungen und eine zu-
nehmende Differenzierung des Behand-
lungsangebots bzw. Spezialisierung der Be-
handler.
Bereits 1681 beschrieb der englische
Arzt Thomas Sydenham (1624–1689) in
einem Brief an seinen Kollegen Wil-
liam Cole hysterische Patientinnen
und Patienten,die durch Launenhaf-
tigkeit gekennzeichnet seien: Sie wür-
den ohne jedes Maß jene lieben,die sie
alsbald ohne jeden Grund hassen wür-
den; die außerordentliche Aufregung
des Geistes dieser Kranken entstünde
aus plötzlichen Ausbrüchen von Wut,
Schmerz,Angst sowie ähnlichen Emo-
tionen (nach Veith 1965). Diese von Sy-
denham so charakterisierten Patienten
erinnern deutlich an Menschen mit ei-
ner Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Von einer,wie es manchmal heißt,
„neumodischen Erscheinung“ kann al-
so hier nicht die Rede sein. Vielmehr
liegt die Vermutung nahe,dass es die
Diagnose „Borderline“ auch deshalb so
schwer hatte,von den Psychiatern ak-
zeptiert zu werden,weil sie primär der
psychoanalytischen Literatur ent-
stammt und dem Grabenkrieg zwi-
schen Psychiatrie und Psychoanalyse
zum Opfer fiel; daneben spielten si-
cherlich aber auch die Borderline-typi-
schen Probleme in Therapie und Ge-
genübertragung eine Rolle bei der
„schweren Geburt.“ Auch die ICD-10
spiegelt diese Aspekte wider. Während
die meisten Persönlichkeitsstörungen
präzise beschrieben sind,wird die Bor-
derline-Persönlichkeitsstörung nur dif-
fus-pauschal skizziert; im Vorwort
(WHO 1991,S. 30) läßt sich die Ursache
erahnen:
Hinzuzufügen ist jedoch,dass über kei-
ne Persönlichkeitsstörung so umfang-
reiche Forschungsergebnisse vorliegen,
wie gerade zur Borderline-Störung.
Frühe Arbeiten
zur Borderline-Störung
Der Begriff („borderland“) wurde erst-
malig von Hughes (1884) – deutlich vor
der Prägung des Begriffes Schizophrenie
durch Bleuler (1908) in einem Vortrag
im Jahre 1907 – erwähnt. Schon Rosse
(1890) verwendete „schwarz-weiß“ als
Metapher zur Illustrierung der „border-
land insanity“ und verwies auf deren fo-
rensische Bedeutung,während Moore
(1921) die Rolle von Angst bei „borderline
mental states“ hervorhob. Für die An-
wendung einer modifizierten psycho-
analytischen Behandlung bei „border-
land neuroses and psychoses“ plädierte
Clark (1919).
Freud selbst hat den Begriff Bor-
derline nicht benutzt,nahm allerdings
die Existenz von Grenz- und Mischfäl-
len (1925) an,ohne damit aber Border-
line-Störungen zu meinen. Allerdings
würden heute Freuds bzw. Breuers (z.B.
Anna O.,Dora und Emmy v. N.),aber
auch Kraepelins Hysteriepatientinnen
Schlüsselwörter
Prof. Dr. Jochen Eckert
Psychologisches Institut III der Universität
Hamburg, Von-Melle-Park 5, 20146 Hamburg
e-mail: jeckert@uni-hamburg.de :
Borderline-Persönlichkeitsstörung ·
Psychotherapie · Wirksamkeit · Setting
Psychotherapeut 5·2000 | 271
105184552.005.png 105184552.006.png
Psychotherapeut
2000 · 45:271–285 © Springer-Verlag 2000
Übersicht
J. Eckert · B. Dulz · C. Makowski
(ebenso wie dessen Psychopathen) wahr-
scheinlich zu einem großen Teil als
Borderline-Patientinnen diagnostiziert
werden (Dulz 2000a; Mentzos 1991;
Stone 1992). Die diagnostische Varianz
der Hysterie in jener Zeit läßt sich an-
hand von Freuds Schriften belegen: Die
Namen seien „zwar alle im Gebrauch,
aber ihr Inhalt ist unbestimmt und
schwankend“ (1917,S. 405) und es ließen
sich verschiedene Formen der Hysterie
wie „Abwehrhysterie“,„Hypnoidhyste-
rie“ (1895,S. 288f.) unterscheiden; als
neuen und häufigen Typus gebe es die
gemischten Neurosen (1898). Auch eine
„ungebundene Angst“ (heute: frei flot-
tierende Angst) zählte Freud zu den
Symptomen der Hysterie (1917,S. 418).
Der „Frage der Grenzfälle“ nahm
sich Reich (1925) an,der in „Der trieb-
hafte Charakter“ eine nach heutiger
Terminologie Borderline-Patientin be-
schrieb. Auch Fenichel (1931) erwähnte
Grenzfälle,denen die „verschrobenen
Psychopathen“ und Personen mit einem
„großen Rest von primitivem Narziß-
mus“ zuzurechnen seien. Deutsch (1934)
ging hinsichtlich eines „Typus der Pseu-
doaffektivität“ von unecht wirkenden
„Als Ob“-Individuen aus,die der „Inbe-
griff der Charakterlosigkeit“ seien,und
„es lohnt der Mühe,diese Sonderlinge
… einzeln einer analytischen Betrach-
tung zu unterziehen“,aber „die Wir-
kung des analytischen Prozesses ist bei
diesen Menschen gleich Null“ (S. 325ff.).
Sterns (1938) umfassende und differen-
zierte Schrift über die „border line group
of neuroses“ prägte bis heute alle nach-
folgenden Ausführungen zur Diagno-
stik und (modifiziert-psychoanalyti-
scher) Therapie (einschl. der Übertra-
gung) der Borderline-Persönlichkeits-
störung. Schmideberg (1947) zog einen
Vergleich zwischen Psychopathen und
Borderline-Fällen,die weder neurotisch
noch psychotisch und stabil in ihrer In-
stabilität seien,Hoch und Polatin (1949)
postulierten die pseudoneurotische
Schizophrenie und Fromm-Reichmann
(1954) zählte Borderline-Fälle zu ihren
häufigsten Patienten.
sen“ Brust der Mutter (paranoid-schi-
zoide Position). Wut werde projiziert,
wodurch paranoide Angst vor den bö-
sen,vernichtenden Objekten entstehe,
das gute Objekt hingegen werde introji-
ziert. Das Kind halte die guten und bö-
sen Anteile durch Aufspaltung der Mut-
ter in eine gute und böse Imago ge-
trennt,um die ersteren vor den letzte-
ren zu schützen. Zu diesem Prozess sei
insbesondere die projektive Identifizie-
rung notwendig. Erst in der depressi-
ven Position sei die Wahrnehmung der
Mutter als ganzes (gutes und böses) Ob-
jekt möglich. Wenn nun schmerzliche
Erfahrungen erfolgten,regrediere das
Kind in die paranoid-schizoide Positi-
on zur Vermeidung von Ambivalenz und
Schuldgefühlen.
The treatment of borderline personality
disorder
Summary
As early as 1681 a physician in England com-
plained already in a letter about patients
who were loving excessively, to hate inten-
sely those same persons soon after without
any obvious reason. In addition, they showed
sudden outburts of rage, pain and similar
emotions.This early description of typical
borderline symptoms introduces the account
of the development of the theory of border-
line disorder from its beginnings until today.
Before this background the stand of diagnos-
tics and the most important contemporary
treatment concepts such as the psychody-
namic, the behavioural and the client-centered
approaches are presented. Answers to the
question, which the adequate therapeutic
setting could be for inpatient treatment con-
cepts, are suggested. Present empirical stu-
dies confirm the efficacy of psychotherapy in
borderline disorders.The small number of
these studies shows, however, how difficult it
is to make empirical research in this field. For
the future of the psychotherapy of border-
line disorders a further increase in personality
disorders and an increasing differentiation in
the treatment forms and in the specializa-
tion of therapeutic is predicted.
Die Entwicklung von spezifischen
Abwehrmechanismen zur Abwehr
von Angst
Winnicott (1978,1992,S. 211) postulier-
te,dass bei einer unzuverlässigen,nicht
haltenden Mutter bzw. Umwelt der Säug-
ling spezifische Abwehrmechanismen
entwickele,er sei „beschäftigt mit der
doppelten Aufgabe,das wahre Selbst zu
verbergen und sich den Forderungen
zu fügen,die die Welt … an es stellt.“
Dadurch bedingte Verzerrungen lägen
bei Borderline-Patienten vor (1965,
1984),gegen die mit der fehlenden Er-
fahrung eines Gehaltenwerdens ver-
bundene Angst werde die Abwehr mit-
tels Desintegration eingesetzt. Die Funk-
tion des Haltens sei auch für die Bor-
derline-Therapie notwendig,zudem
solle der Therapeut die tiefe Angst des
Patienten kennen und verstehen. Win-
nicott führte einen „dritte(n) Bereich
des menschlichen Lebens“ (1971,1995,
S. 11) ein,einen zwischen Innen- und Au-
ßenwelt angesiedelten Erlebensbereich.
Key words
Borderline personality disorder ·
Psychotherapy · Efficacy/efficiency · Setting
Die Störung des Individuations-
prozesses als Grundlage der Borderline-
Störung
Für Mahler (1975a,b) ist die Borderline-
Störung das Resultat einer Störung des
Prozesses von Loslösung und Individua-
tion in der Wiederannäherungsphase;
als deren Folge müsse das Kind auf die
Vorstellung von der eigenen Größe und
auf die eigene Beteiligung an der All-
macht der Eltern verzichten. So entstün-
de einerseits Enttäuschung über und
Die Zeit der Etablierung: Klein,
Kernberg, Volkan und andere
Kleins (1946,1962) Theorie von der
Teilwahrnehmung der Objekte,also von
Teilobjektbeziehungen führte zur An-
nahme der Existenz der „guten“ und „bö-
272
| Psychotherapeut 5·2000
105184552.007.png
Hass auf die Mutter,andererseits aber
halte das Kind am Bild der guten,völlig
mit ihm verbundenen Mutter fest. Das
Kind habe die Objektwelt permanent in
gut und böse aufgespalten und vertei-
dige so das gute Objekt gegen die Ab-
kömmlinge des Aggressionstriebs. An
diesen Zustand sei der Borderline-Pati-
ent fixiert.
Nach Masterson (1976,1992) – sich
beziehend auf Mahler – habe die Mutter
dem Patienten als Kind in der Separati-
ons- und Individuationsphase die Liebe
entzogen,was eine Verlassenheitsdepres-
sion auslöse. Es geht also weniger um
das gute/böse,denn um das belohnen-
de/verlassende Objekt. Das Kind ver-
leugne die Trennung und durchlaufe
nicht die Individuation. In der Behand-
lung habe der Therapeut als reale Per-
son die Individuation des Patienten zu
unterstützen und ihn mit der Verleug-
nung der Destruktivität seines patho-
logischen Ich zu konfrontieren,damit
sich ein Real-Ich entwickeln könne. Die
Durcharbeitung der Verlassenheitsde-
pression führe zur Umwandlung der
gespaltenen Objektbeziehungs-Teilein-
heiten in integrierte Einheiten und des
gespaltenen in ein integriertes Ich.
Insbesondere der Aggressionstrieb sei
bei der Borderline-Persönlichkeitsorga-
nisation ausgeprägt,die auf der oralen
Stufe fixiert sei. Das (sadistisch-rigide)
Über-Ich sei nicht integriert. In der
Grenzsetzungen und Strukturierungen
einschließenden Therapie seien die hoch-
gradig verzerrten negativen Übertra-
gungsanteile unverzüglich zu bearbei-
ten,genetische Deutungen hingegen –
jedenfalls anfangs – zu vermeiden. Die
interpretative Bearbeitung primitiver
Abwehrvorgänge bzw. der ihnen ent-
sprechenden primitiven Objektbezie-
hungen des Patienten stärke das Ich
und führe zur Auflösung der Pathologie.
Rolle von Traumata bei der Entwicklung
der Störungen: Schwer und schwerstge-
störte Borderline-Patienten sind fast al-
le realtraumatisiert worden,ohne dass
ein monokausaler Zusammenhang be-
steht (Paris 2000). Dulz und Jensen
(2000) fanden bei 82% der stationär be-
handelten Borderline-Patienten körper-
liche Misshandlung und/oder sexuellen
Missbrauch,unter Einbeziehung schwe-
rer Vernachlässigung stieg der Anteil
auf 100%. Die Daten legen den Schluss
nahe,dass derartige Ereignisse um so
häufiger und – jedenfalls im subjekti-
ven Erleben des Betroffenen – um so
drastischer stattgefunden haben,je
schwerer die Borderline-Störung ist.
Die Fülle der inzwischen vorliegen-
den empirischen Befunde zur Rolle von
Traumatisierungen bei der Entwicklung
von Persönlichkeits-Störungen führt auch
zu einer neuen Aktualität von Freuds
sog. Verführungstheorie (Dulz 2000a).
Für Rohde-Dachser (1979,1995) ist
die Borderline-Störung angesichts der
massiven Kindheitstraumata eine Über-
lebensstrategie. Die Spaltung der Ob-
jektbeziehungen betreffe die Beziehung
zu einem wichtigen Objekt der Kind-
heit,das gehasst und gleichzeitig zum
Überleben gebraucht wurde.
Das Konzept des „Containers“
und der „haltenden Funktion“
Bion (1962) entwickelte Kleins Konzept
der projektiven Identifizierung weiter
als Beziehung zwischen Container (der
Mutter) und Contained (das,was das
Kind in die Mutter projiziert/verlagert,
insbes. seine namenlosen Ängste). Im
Container gereinigt werde es dann mo-
difiziert zurückgegeben. In Bions Mo-
dell geht es weniger darum,dass die
Mutter versorgt,sondern mehr darum,
dass sie denkt und versteht. Das „Prin-
zip Container“ wurde auch auf die the-
rapeutische Situation angewendet. Zur
„Konkurrenz“ von Bions Container und
Winnicotts haltender Funktion meinen
Dulz et al. (2000,S. 496):
Das Konzept der Borderline-
Organisation
Die Bedeutung von Spaltung
und Spaltungsübertragung
für die Borderline-Therapie
Insbesondere Mahlers Objektbezie-
hungsansatz,aber auch Freuds Struk-
turmodell,Ich-psychologische Konzep-
te und die Objektbeziehungstheorie syn-
thetisierte Kernberg (1967; 1978,1990).
Kernbergs Theorie zur Spaltung wider-
spricht aus Sicht der Säuglingsforschung
Dornes (1993,1995): Der Zustand der
Aufgespaltenheit von Selbst- und Ob-
jektrepräsentanzen werde nicht erst ab
18 Monaten durch Integration überwun-
den,sondern Selbstempfinden und Ob-
jektwahrnehmung seien schon in den
ersten Lebensmonaten einheitlich. Durch
diesen Einwand wird die Borderline-
Theorie Kernbergs nicht erschüttert,
die davon ausgeht,dass die sog. Border-
line-Persönlichkeitsorganisation zwi-
schen einem höheren (neurotischen)
und einem niederen (psychotischen)
Funktionsniveau operiere. Die Niveaus
unterschieden sich sowohl in der Ab-
wehr,Ich-Identitätsstörungsausprägung,
Objektbeziehungsgestaltung,Realitäts-
prüfung sowie Übertragungsart als
auch in der Reaktion auf Deutungen.
„Beim Containing durch das Team geht es …
um die ‚Eliminierung‘ unerwünschter Teile
des Selbst,um negative Affekte und hier ins-
besondere um das Zentralsymptom der Angst
als – wie wir heute wissen – Traumafolge,
um den Preis der projektiven Identifizie-
rung mit dem ‚Container‘ (sprich Therapeu-
ten) und somit letztlich um den Preis der
Forderung nach dem Ausbau eines Borderli-
ne-typischen und in der Therapie zu bear-
beitenden und zu reduzierenden Abwehr-
mechanismus. Die haltende Funktion des
Teams hingegen dient der Herstellung einer
von vornherein nicht traumatisierenden Um-
gebung … ,in der dann die übermächtigen
Ängste des Patienten gar nicht erst ange-
messen sind und … neue Erfahrungen mög-
lich werden.“
Von einer sechsstufigen Borderline-
Therapie,die im Liegen durchgeführt
werde und auf dogmatische Grenzset-
zungen verzichte,geht seit Ende der
70er-Jahre Volkan (Volkan u. Ast 1992)
aus. Zentral sei die Entwicklung einer
Spaltungsübertragung,andere Formen
der Übertragung könne der Patient
nicht entwickeln. Notwendig sei die
therapeutische Regression,damit der
Patient die Spaltung aus Abwehr aufge-
ben und zur entwicklungsgemäßen
Spaltung zurückkehren könne,wo-
durch er lerne,Selbst- und Objektre-
präsentanzen zu integrieren.
Divergierende und integrierende
theoretische Ansätze
Die Rolle des Traumas bei der
Ausbildung einer Borderline-Störung
Adler et al. (1983,1994) sehen im Gegen-
satz z.B. zu Kernberg die Borderline-
Störung nicht als diagnostische Entität
und bevorzugen als Terminus „schwere
sadomasochistische Charakterstörung.“
Eine wesentliche Ergänzung erfuhren
die Theorien zur Ätiologie der Border-
line-Störung durch den Nachweis der
Psychotherapeut 5·2000 | 273
105184552.008.png 105184552.001.png
Übersicht
Insbesondere existierten keine spezifi-
schen,allen Borderline-Patienten ge-
meinsame entwicklungsbedingte oder
strukturelle Probleme; zwischen inten-
siver Ambivalenz und Spaltung bestehe
kein Unterschied. Wie bei allen,so habe
auch bei diesen Patienten die Verdrän-
gung einen entscheidenden Anteil an
der Abwehrstruktur. In der Analyse seien
genetische Deutungen schon früh
fruchtbar als Mittel zur Angstverminde-
rung. In Abgrenzung auch von Master-
son sei eine Konfrontation mit regressi-
vem Verhalten nicht zu empfehlen.
Heigl-Evers et al. (1993) verbinden
für ihre psychoanalytisch-interaktio-
nelle Methode u.a. Techniken des Ant-
wortens,der Übernahme einer Hilfs-
Ich-Funktion und des Umgangs mit Af-
fekten. Angestrebt werde eine Verände-
rung der Borderline-Objektbeziehun-
gen in Richtung auf triadische Ganzob-
jektbeziehungen.
Dulz und Schneider (1995,1996) in-
tegrierten für ihren für die stationäre
Borderline-Psychotherapie entwickel-
ten Ansatz Elemente von Ferenczi (Sym-
pathie als Fundament der therapeuti-
schen Beziehung),Winnicott (haltende
Funktion) sowie von Kernberg (techni-
sche Neutralität); das flexible Setting sei
stets dem aktuellen Befinden des Pati-
enten anzupassen mit dem Ziel der Be-
arbeitung von Realtraumata in einer
haltenden,nicht-ängstigenden Umge-
bung durch ein multiprofessionelles
Team. Nach Dulz und Schneider,aber
auch Hoffmann (2000) stellt also Angst
den Kernaffekt der Borderline-Störung
dar,für Kernberg (1997) hingegen Wut
und Hass (s. hierzu weiter unten).
s. unten),dann weist sie eine hohe Ko-
morbiditätsrate auf,und zwar sowohl
mit anderen Persönlichkeitsstörungen
als auch mit anderen psychischen Stö-
rungen auf der Achse I des DSM. Nach
Fiedler (1994,1995) ist die Komorbidität
unter den Persönlichkeitsstörungen so
hoch,dass es kaum eine persönlichkeits-
gestörte Person gebe,die nicht die Kri-
terien von mindestens zwei Persönlich-
keitsstörungsbildern erfülle.
Die Frage der Komorbidität stellt
sich nicht,wenn die Diagnose im Kon-
text eines psychoanalytischen Konzepts
der Borderline-Persönlichkeitsstörung
gestellt wird,weil dort,wie oben darge-
stellt,die Störung als nosologische Ein-
heit mit eigener Ätiologie aufgefaßt
wird. Die psychoanalytische Diagnostik
stützt sich auch auf psychopathologi-
sche Merkmale,viel stärker aber auf
Strukturmerkmale,z.B. auf das Ausmaß
der Fähigkeit zur Realitätskontrolle. Zur
Erfassung dieser Strukturpathologie ent-
wickelte Kernberg (1988,1991) das „Struk-
turelle Interview“.
Dennoch scheinen die beiden dia-
gnostischen Zugänge nicht zu völlig un-
terschiedlichen Ergebnissen zu führen.
Zwischen dem Kernbergschen „Struk-
turellen Interview“ und dem eher de-
skriptiv konzipierten „Diagnostischen
Interview für das Borderlinesyndrom“
(DIB) von Gunderson (1985) wurde eine
diagnostische Übereinstimmung bei 71%
der Fälle gefunden (Carr et al. 1979;
Kernberg et al. 1981).
Das DIB zeichnet sich durch eine
hohe Interraterreliabilität und interna-
tionale Verbreitung aus. Eine deutsche
Übersetzung der revidierten Fassung
des DIB findet sich bei Rohde-Dachser
(1995,S. 225ff.),Hinweise zur Anwen-
dung bei Schödlbauer et al. (1997).
Psychodynamische
Therapiekonzepte
Wie bereits aus der Zusammenstellung
der verschiedenen Konzepte der Bor-
derline-Störung ersichtlich geworden
ist,ergeben sich aus den Unterschieden
in den Auffassungen zur Ätiologie der
Borderline-Störung entsprechend un-
terschiedliche Therapiekonzepte. Den-
noch haben sich im Laufe der Entwick-
DSM-IV: Diagnostische Kriterien für 301.83 (F60.31)
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild
und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter
und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen.
Mindestens 5 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt,
die in Kriterium 5 enthalten sind.
2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen
Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahr-
nehmung.
4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben,
Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren,„Fressanfälle“).
Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt,
die in Kriterium 5 enthalten sind.
5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverlet-
zungsverhalten.
6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige
episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige
Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).
7. Chronische Gefühle von Leere.
8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren
(z.B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere
dissoziative Symptome.
Diagnostik
Die Diagnose „Borderline-Störung“ wur-
de lange Zeit als Verlegenheitsdiagnose
benutzt für Patienten,auf die keine der
klassischen psychiatrischen Diagnosen
zuzutreffen schien. Das änderte sich erst
1980 mit der Aufnahme der Diagnose
Borderline-Persönlichkeitsstörung in die
3. Revision des Diagnostischen und sta-
tistischen Manuals psychischer Störun-
gen (DSM) und der Entwicklung stan-
dardisierter bzw. halbstandardisierter
Interviews zur Prüfung der Diagnose.
Wenn die Borderline-Persönlich-
keitsstörung auf der Ebene der Psycho-
pathologie diagnostiziert wird,z.B. an-
hand von DSM-IV-Kriterien (APA 1994,
274
| Psychotherapeut 5·2000
105184552.002.png
lung Behandlungsprinzipien für die Be-
handlung von Patienten mit Border-
line-Persönlichkeitsstörungen herausge-
schält,deren Bedeutsamkeit von vielen
psychodynamisch orientierten Psycho-
therapeuten allgemein anerkannt wird.
Eine erste Zusammenstellung dieser
therapeutischen Prinzipien geht auf
Rohde-Dachser (1979,1995) zurück. Sie
wird ergänzt durch neu entwickelte Be-
handlungsakzente,z.B. die traumazen-
trierte Psychotherapie (Reddemann u.
Sachsse 2000),und solche,die sich im
stationären Rahmen bewährt haben
(vgl. Dulz et al. 2000).
jemanden verlassen zu werden,den sie
sehr mögen.
Die positive Übertragung sollte nach
Möglichkeit gefördert werden,damit
die therapeutische Beziehung eine
Stabilisierung erfährt – manchmal
auch durch Parteiergreifung für den
Patienten.
In der Regel ist den ohnehin oft wech-
selnden Symptomen weniger Auf-
merksamkeit zu schenken als der Ich-
Struktur und dem aus ihr resultieren-
den Verhalten,insbesondere bezüg-
lich der Gestaltung von Beziehungen.
Beispiel einer entsprechenden Therapeu-
tenäußerung: „Sicherlich war Ihre Mutter
in der Zeit der Scheidung von Ihrem Vater
sehr belastet und hatte gar nicht die Zeit,
sich um Sie zu kümmern. Dennoch sind
Sie von ihr allein gelassen worden und ha-
ben sehr darunter gelitten.“
Allgemeine Prinzipien ambulanter
und stationärer Borderline-Therapie
Die am wenigsten konflikthaften Per-
sönlichkeitsbereiche des Patienten
werden eruiert,und auf diese erstreckt
sich die therapeutische Arbeit in der
ersten Therapiephase,um der Selbst-
entwertung entgegenzuwirken. Erst
nach Ausbildung einer tragfähigen Be-
ziehung und bereits fortgeschrittener
Ich-Strukturierung werden die stärker
mit Angst verbundenen Konfliktberei-
che untersucht und bearbeitet – dies
betrifft die Beziehung zwischen dem
Patienten und seinen Eltern,aber auch
einen sexuellen Missbrauch und kör-
perliche Misshandlung.
Eine positive Übertragung sollte nicht
gedeutet werden; dieses kann zwar
der Entlastung des Therapeuten die-
nen,birgt aber die Gefahr eines Rück-
zugs des Patienten,der – gewisser-
maßen im „Gegenzug“ – seine (Pseu-
do-)Autonomie stärken zu müssen
meint: unter Umständen auch durch
einen Therapieabbruch,der nicht sel-
ten allein „Schutz“ vor einer nun doch
aufgenommenen intensiven und durch
die Deutung vor allem bewusst gewor-
denen Beziehung (zum Therapeuten)
bietet,sind doch enge Beziehungen
bislang primär als traumatisierend
und/oder unzuverlässig erlebt worden.
Allgemeine Prinzipien des thera-
peutischen Settings bei ambulanter
und stationärer Borderline-Therapie
Als oberstes Prinzip jeder Border-
line-Therapie wird ein variables Set-
ting angesehen,das den jeweiligen Be-
dürfnissen,Fähigkeiten und Grenzen
des Patienten angepaßt werden muss.
Persönliche Sympathie für den Pati-
enten (stationär: bei zumindest eini-
gen Teammitgliedern).
Technische Neutralität (jedes Team-
mitglieds) als „väterliche“ Kompo-
nente.
Zu Beginn der Therapie sollten in
Einzel- und Gruppensitzungen Schwei-
gepausen alsbald unterbrochen wer-
den. Später entwickeln die Patienten
mehr Frustrationstoleranz,aber auch
dann sollte eine besonders andau-
ernde Schweigepause nicht ununter-
brochen bleiben,da ansonsten die
Angst des Patienten zu- und seine Fä-
higkeit zur Introspektion abnimmt.
Abgespaltene und inner- wie außer-
halb der Therapie agierte negative
Übertragungen sollten erkannt und
thematisiert werden,wobei es häufig
günstig zu sein scheint,diese in der
ersten Therapiephase zunächst zu to-
lerieren,um dem Patienten das dann
zwangsläufig erfolgende Anfluten der
Angst bei abruptem Verlust der „be-
währten“ Abwehrstrategie zu erspa-
ren.
Haltende Funktion im Sinne Win-
nicotts (durch das gesamte Team) als
„mütterliche“ Komponente.
Das Agieren des Patienten ist zu kon-
trollieren und zu steuern,ggf. durch
deutliche und eindeutige Grenzset-
zungen.
Der Patient sollte umfassend über die
Art seiner Erkrankung und das ge-
wählte Therapiesetting aufgeklärt wer-
den. Dazu gehört die Erläuterung we-
sentlicher psychodynamischer Annah-
men über die Entstehung und Auf-
rechterhaltung der Störung sowie ggf.
der Gründe für eine Medikation und
eine Aufklärung über Wirkungen und
Nebenwirkungen.
Zur freien Assoziation wird in der
Regel nicht aufgefordert. Vielmehr
werden die Mitteilungen und Asso-
ziationen des Patienten in Richtung
eines verbesserten Realitätsbezugs
gesteuert. Statt der freien Assoziation
steht das oft von verzerrten Wahr-
nehmungen bestimmte Verhalten des
Patienten (bzgl. Mitpatienten und
Teammitgliedern) im Zentrum der
Therapie.
Die Bilder der frühen Bezugsperso-
nen sollten mit dem Ziel entzerrt wer-
den,dass diese dem Patienten nun-
mehr als Menschen mit Vorzügen und
Schwächen erscheinen (Entdämoni-
sierung und Entidealisierung).
Dem Patienten sollte nach Möglich-
keit immer wieder bestätigt werden,
dass er liebesfähig (und liebenswert)
ist. Die Verzerrungen,in denen sich
seine Liebesbedürfnisse manifestie-
ren,sollten bearbeitet und befriedi-
gendere Möglichkeiten für die Ver-
wirklichung dieser Bedürfnisse ge-
funden werden.
In der Regel sollten keine geneti-
schen Deutungen gegeben werden.
Statt dessen sollten bevorzugt Deu-
tungen vorgenommen werden,die
sich insbesondere auf die Abwehr des
Patienten beziehen und zu einem
verbesserten Realitätsbezug des Pati-
enten beitragen können.
Beispielsweise bedeutet es für viele Pati-
enten eine Entlastung,erklärt zu bekom-
men,dass sie unter Trennungen – und sei-
en es nur vorgestellte oder befürchtete –
sehr viel stärker als andere Menschen lei-
den und dass reale oder befürchtete Tren-
nungen häufig Auslöser für heftige Sym-
ptome darstellen,z.B. ein Gefühl innerer
Leere auslösen. Umgekehrt könnten sie
sich auch fragen,ob ihre plötzlich aufge-
tauchten Suizidgedanken nicht darauf zu-
rückzuführen seien,dass sie fürchten,von
Dem Patienten sollte ggf. immer wie-
der versichert werden,dass die tech-
nische Neutralität des Therapeuten
keine Ablehnung bedeutet.
Gegebenenfalls muss der Patient mit
verleugneten Inhalten und Gefahren
nachdrücklich konfrontiert werden.
Psychotherapeut 5·2000 | 275
105184552.003.png 105184552.004.png
Zgłoś jeśli naruszono regulamin