Brian W. Aldiss - Helliconia - Sommer.pdf

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Helliconia: Sommer
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Helliconia-Sommer
Inhalt
I Die Meeresküste von Borlien
II Ankömmlinge im Palast
III Eine voreilige Scheidung
IV Eine Neuerung im Cosgatt
V Die Art der Madis
VI Diplomatische Geschenke
VII Besuch bei den Toten
VIII Im Angesicht des Mythos
IX Verdrießlichkeiten für den Kanzler
X In Gewahrsam
XI Reise zum nördlichen Kontinent
XII Flußfahrt mit Passagieren
XIII Ein Weg zu besseren Waffen
XIV Wo die Flambregs leben
XV Die Gefangenen des Steinbruchs
XVI Der Mann, der einen Gletscher abbaute
XVII Todesflug
XVIII Besucher aus der Tiefe
XIX Oldorando
XX Wie Gericht gehalten wurde
XXI Die Ermordung Akhanabas
Schlußstrophe
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I
Die Meeresküste von Borlien
Wellen rauschten den Strand hinauf, wichen zurück und kamen
wieder. Draußen vor der Küste wurde die Prozession der anlaufen-
den Brandungswellen von einer mit Vegetation bedeckten felsigen
Masse gebrochen. Sie markierte die Grenze zwischen der Flachwas-
serzone und der offenen See. Einst war der schwärzliche Felsen Teil
eines Berges im Landesinneren gewesen, bis vulkanische Eruptionen
ihn in die Bucht geschleudert hatten.
In dieser Zeit war der Felsen durch einen Namen domestiziert; er
war als ›der Linienfels‹ bekannt. Nach ihm hatte man der Bucht und
ihrem unmittelbaren Hinterland den Namen Gravabagalinien gege-
ben. Jenseits dieses Felsens lag die schimmernde blaue Weite des
Meeres der Adler. Die auflaufenden Brecher waren unter ihren
Schaumkronen trüb vom Sand, den sie aufgewühlt hatten, bevor sie
in weißer Gischt zusammenfielen und ihre schaumbedeckten Ausläu-
fer den Strand hinaufjagten, wo sie ermattet im Sand versickerten.
Nachdem sie die Bastion des Linienfelsens umbrandet hatten, tra
fen die Wellenfronten in verschiedenen Winkeln auf die Küste, wo
sie sich mit verdoppelter Gewalt brachen und schäumend die Füße
einer vergoldeten Sänfte umspülten, die von vier Phagoren am
Strand niedergesetzt wurde. Die rosigen Zehen der Königin von Bor-
lien tauchten in die Ausläufer der anstürmenden Wogen.
Die enthornten Ancipitalen standen bewegungslos. So sehr sie das
Wasser fürchteten, ließen sie es um ihre Füße brodeln, ohne mehr zu
tun als gelegentlich mit einem Ohr zu zucken. Obwohl sie ihre
königliche Bürde eine halbe Meile vom Palast hergetragen hatten,
zeigten sie keine Erschöpfung, und obwohl der leichte Seewind die
drückende Hitze kaum zu lindern vermochte, gaben sie durch nichts
zu erkennen, daß sie darunter litten. Noch schienen sie im geringsten
interessiert, als die Königin ihr Gewand abwarf und nackt von der
Sänfte ins Wasser watete.
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Hinter den Phagoren stand im trockenen Sand der Majordomo des
Palastes und beaufsichtigte zwei menschliche Sklaven bei der
Errichtung eines Zeltes, das er mit hellen Madi-Teppichen auslegen
ließ.
Die Wellenausläufer umschmeichelten die Knöchel der Königin
MyrdalemInggala. ›Königin der Königinnen‹ wurde sie von der bäu-
erlichen Bevölkerung Borliens genannt. In ihrer Begleitung waren
Prinzessin Tatro, ihre Tochter, und einige Damen aus ihrem Gefolge.
Die Prinzessin schrie vor Begeisterung und sprang auf und nieder.
Im Alter von zwei Jahren und drei Zehnern betrachtete sie die See
als einen riesigen, unbekümmerten Freund.
»Oh, schau diese Welle, Mutter! Es ist die größte! Und die nächste
... da kommt sie ... oooh! Wie hoch sie sind! Immer größer werden
sie, Mutter, schau nur! Schau dir diese an, gleich stürzt sie vornüber
und – ooh, da kommt eine noch größere! Schau, schau, Mutter!«
Die Königin nickte ernst zu den begeisterten Ausrufen ihrer klei-
nen Tochter und hob den Blick in die Ferne. Am südlichen Horizont
türmten sich schiefergraue Wolken, Vorboten der beginnenden
Monsunzeit. Das tiefe Wasser zeigte ein Farbenspiel, für das ›blau‹
keine zureichende Beschreibung bot. Die Königin sah Azurblau,
Aquamarin, Türkis und leuchtendes Grün. Am Finger trug sie einen
Ring, den ein Händler in Oldorando ihr verkauft hatte. In diesen
Ring war ein Edelstein gefaßt – einzigartig und von unbekannter
Herkunft –, der zu den Farben der morgendlichen See paßte. Sie
fühlte, daß ihr Leben und das Leben ihres Kindes sich zur Existenz
verhielt, wie der Stein zum Ozean.
Aus jenem Reservoir des Lebens kamen die Wogen, die Tatro
begeisterten. Für das Kind war jede Brandungswelle ein separates
Ereignis, erfahren ohne Beziehung zu dem, was vorausgegangen war
und noch kommen sollte. Jede Welle war die einzige Welle. Tatro
lebte noch in der immerwährenden Gegenwart der Kindheit.
Für die Königin waren die Wellen ein unaufhörlicher Ablauf, nicht
bloß des Ozeans, sondern der Prozesse des natürlichen Weltgesche-
hens. Diese Prozesse schlossen ihre Verstoßung durch ihren Gemahl
ebenso mit ein wie die über den Horizont marschierenden Armeen,
die zunehmende Hitze und das Segel, das in der Ferne zu sehen sie
jeden Tag aufs neue hoffte. Von all diesen Dingen gab es kein Ent-
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rinnen. Vergangen oder zukünftig, sie waren enthalten in ihrer ge-
fährlichen Gegenwart.
Mit einem Zuruf an Tatro lief sie durch das aufspritzende Wasser
und warf sich in die Brandung. Der Ring blitzte an ihrem Finger, als
ihre Hände die Gischt zerteilten und sie hinausschwamm.
Jenseits der Brandungszone ging eine angenehm wiegende
Dünung. Das Wasser umschloß ihre Glieder und schenkte wohlige
Kühlung. Sie spürte die Energien des Ozeans. Eine zweite Linie wei-
ßer Schaumkronen weit voraus markierte die Grenze zwischen den
Wassern der Bucht und der starken, westwärts ziehenden Meeres-
strömung, die der Südküste des tropisch heißen Kontinents von
Campannlat folgte. MyrdalemInggala schwamm nie weiter hinaus
als bis zu dieser Trennungslinie, es sei denn, ihre Vertrauten waren
bei ihr.
Ihre Vertrauten trafen jetzt ein, angelockt vom starken Aroma ihrer
Weiblichkeit. Sie schwammen näher, und MyrdalemInggala tauchte
mit ihnen, umringt von den geschmeidigen, glatten Körpern und
ihrer orchestralen Sprache, die ihr noch fremd war. Sie warnten sie,
daß etwas geschehen werde, etwas Unangenehmes. Und es sollte
von der See her kommen. Soviel verstand sie.
Das Exil hatte die Königin an diesen gottverlassenen Ort im äußer-
sten Süden von Borlien verbannt, in das alte Schloß von Gravaba-
galinien, das heimgesucht wurde von den Geistern einer Armee, die
vor langer Zeit hier zugrunde gegangen war. Das Schloß war alles,
was von ihrem geschrumpften Herrschaftsbereich übriggeblieben
war. Aber sie hatte eine weitere Domäne entdeckt, hier in der See.
Ihre Entdeckung war ganz zufällig gewesen und datierte von dem
Tag, als sie während ihrer Periode im Meer geschwommen war. Ihr
Geruch im Wasser war es gewesen, was die Vertrauten zu ihr geführt
hatte. Mit der Zeit waren sie ihre täglichen Gefährten geworden,
Tröstung für alles, was verloren war und alles, was sie bedrohte.
Umringt von den Gefährten, ließ MyrdalemInggala sich auf dem
Rücken treiben, dem heißen Licht des hoch am Himmel stehenden
Batalix ausgesetzt. Das Wasser gluckste und dröhnte in ihren Ohren.
Ihre Brüste waren klein, mit zimtfarbenen Warzen, ihre Hüften breit,
die Taille schmal. Die Wassertropfen auf ihrer Haut blitzten im Son-
nenschein. Ihre Begleiterinnen vergnügten sich in den Brandungs-
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