Meyer, Kai - Merle 03 - Das Gläserne Wort.pdf

(625 KB) Pobierz
Microsoft Word - Meyer, Kai [Fließende Königin 03] - Das Gläserne Wort
Kai Meyer
Das Gläserne Wort
Der Umwelt zuliebe ist dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
ISBN 3-7855-4403-0 – 2. Auflage 2002
Text © 2002 Kai Meyer
Copyright der deutschen Ausgabe
© 2002 Loewe Verlag GmbH, Bindlach
Innenillustration: Joachim Knappe Umschlagillustration: Joachim Knappe
Herstellung: Annette Schnauder
Umschlaggestaltung: Andreas Henze
Gesamtherstellung: GGP Media, Pößneck
Printed in Germany
269136200.003.png 269136200.004.png
Eis und Tränen
DIE PYRAMIDE ERHOB SICH AUS HOHEM Schnee.
Um sie herum erstreckte sich die ägyptische Wüste, begraben unter dem Mantel
einer neuen Eiszeit. Ihre Sandhügel waren steif gefroren, ihre Dünen zu
Verwehungen aus Schnee aufgetürmt. Die Glutgeister von einst erhoben sich als
Eiskristalle aus der Ebene, kreisende Windhosen, die ein paar Mal um sich selbst
tanzten und kraftlos wieder zusammensanken.
Merle kauerte im Schnee, auf einer der oberen Stufen der Pyramide. Junipas
Kopf ruhte in ihrem Schoß. Das Mädchen mit den Spiegelaugen hatte die Lider
geschlossen, zuckend, als kämpfte dahinter ein Paar Käfer darum, ins Freie zu
gelangen. Eiskristalle hatten sich in Junipas Wimpern und Brauen verfangen und
ließen beide noch heller erscheinen. Mit ihrer weißen Haut und dem glatten,
hellblonden Haar wirkte sie wie eine Puppe aus Porzellan, auch ohne den Raureif,
der allmählich beide Mädchen bedeckte: zerbrechlich und ein wenig traurig, als
wäre sie in Gedanken stets bei einem tragischen Verlust in der Vergangenheit.
Merle fror erbärmlich, ihre Glieder schlotterten, ihre Finger bebten, und jeder
Atemzug fühlte sich an, als saugte sie geraspelte Glassplitter in ihre Lunge. Ihr
Kopf tat weh, aber sie wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder an dem, was sie
während ihrer Flucht aus der Hölle durchgemacht hatten.
Eine Flucht, die sie geradewegs hierher geführt hatte.
Nach Ägypten. In die Wüste.
Zum ersten Mal seit der letzten Eiszeit waren Sand und Dünen unter einer
meterhohen Schicht aus Schnee begraben.
Junipa murmelte etwas, ihre Stirn legte sich in Falten, aber noch immer schlug
sie ihre Spiegelaugen nicht auf. Merle wusste nicht, was geschehen würde, wenn
Junipa endgültig erwachte. Ihre Freundin war nicht mehr sie selbst, seitdem man
ihr in der Hölle an Stelle ihres Herzens ein Bruchstück des Steinernen Lichts
eingepflanzt hatte. Zuletzt hatte Junipa versucht, Merle an ihre Gegner
auszuliefern. Das Steinerne Licht, jene unbegreifliche Macht im Zentrum der
Hölle, hielt sie fest in seinem Bann.
Noch war das Mädchen bewusstlos, aber wenn es erwachte … Merle mochte nicht
daran denken. Sie hatte einmal mit ihrer Freundin gekämpft, und sie würde es
nicht wieder tun. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Sie wollte nicht mehr
kämpfen, nicht gegen Junipa, nicht gegen die Lilim unten in der Hölle, auch nicht
gegen die Schergen des Ägyptischen Imperiums hier oben. Merles Mut und ihre
Entschlossenheit waren aufgezehrt, und sie wollte nur noch schlafen. Sich
zurücklehnen, sich ausruhen und abwarten, bis die Frostwinde sie in eisigen
Schlummer wiegten.
„Nein!“
Die Fließende Königin riss Merle aus ihrem Dämmerzustand. Die Stimme in ihrem
Kopf war ihr vertraut und zugleich unendlich fremd. So fremd wie das Wesen
selbst, das sich in ihr eingenistet hatte und sie seither begleitete, jeden ihrer
Gedanken, jeden ihrer Schritte.
Merle schüttelte sich und mobilisierte ihre letzten Reserven. Sie musste
überleben!
Rasch hob sie den Kopf und blickte zum Himmel empor.
Dort oben tobte noch immer ein erbitterter Kampf.
Ihr Begleiter Vermithrax, der geflügelte Löwe aus Stein, focht eine waghalsige
Luftschlacht mit einer Sonnenbarke des Ägyptischen Imperiums. Der schwarze
Obsidian seines Körpers glühte seit Vermithrax’ Bad im Steinernen Licht, als
hätte man ihn aus Lava gegossen. Nun zog der Löwe leuchtende Spuren am
269136200.005.png
Himmel wie eine Sternschnuppe.
Merle beobachtete, wie Vermithrax die trudelnde Sonnenbarke abermals von
oben rammte, sich an dem sichelförmigen Gefährt festklammerte und auf der
Oberseite sitzen blieb. Seine Schwingen legten sich rechts und links um den
Rumpf, der etwa dreimal so lang war wie eine venezianische Gondel. Unter dem
Tonnengewicht des Löwen verlor das Gefährt rapide an Höhe, raste auf den
Boden zu, auf die Pyramide –
– und auf Merle und Junipa!
Merle erwachte endgültig aus ihrer Starre. Es war, als hätte die Kälte einen
Panzer aus Eis um sie gelegt, den sie jetzt mit einem einzigen Ruck sprengte. Sie
federte hoch, packte die bewusstlose Junipa unter den Armen und zerrte sie mit
sich durch den Schnee.
Sie befanden sich im oberen Drittel der Pyramide. Falls der Aufschlag der
Sonnenbarke das Gestein zertrümmerte, hatten sie keine Chance. Eine Lawine
aus Felsblöcken würde sie mit sich in den Hohlraum im Inneren des Bauwerks
reißen.
Vermithrax blickte erstmals auf und sah, wohin der taumelnde Flug die Barke
führte. Der Luftwiderstand erzeugte einen scharfen Knall, als er seine Schwingen
auseinander riss und versuchte, den Absturz der Barke umzulenken. Aber das
Gefährt war zu schwer, als dass er allein es hätte auffangen können. Es behielt
seinen steilen Kurs in die Tiefe bei, geradewegs auf die Flanke der
Stufenpyramide zu.
Vermithrax brüllte Merles Namen, aber sie nahm sich nicht die Zeit aufzusehen.
Rückwärts zerrte sie Junipa die steinerne Stufe entlang. Bei jedem Schritt musste
sie ihre Füße mühsam aus dem Tiefschnee ziehen, und ständig drohte sie zu
stolpern. Ihr war klar, dass sie nicht mehr aufstehen würde, wenn sie einmal
gestürzt war. Ihre Kraftreserven waren so gut wie aufgebraucht.
Ein schrilles Heulen drang an Merles Ohren, als die Sonnenbarke näher kam:
Eine Pfeilspitze, mit der das Schicksal auf sie zielte; es gab kaum noch Zweifel,
dass sie ins Schwarze treffen würde.
„Junipa“, brachte sie keuchend hervor, „du musst mir helfen …“
Aber Junipa bewegte sich nicht. Nur hinter ihren geschlossenen Lidern zuckte
und rumorte es. Wäre dieses Lebenszeichen nicht gewesen, Merle hätte ebenso
gut eine Tote durch den Schnee ziehen können: Junipas Brust hob und senkte
sich nicht, denn da war kein Herz mehr, das schlug. Nur Stein.
„Merle!“, brüllte Vermithrax erneut. „Bleib stehen!“
Sie hörte ihn, reagierte aber nicht, machte zwei weitere Schritte, ehe die Worte
zu ihr durchdrangen.
Stehen bleiben? Was, zum Teufel –
Sie blickte zurück, sah die Barke – so nah! –, sah auf dem Rumpf Vermithrax mit
ausgebreiteten Schwingen, die im Gegenwind nach hinten umzuschlagen
drohten, und erkannte, was der Löwe bereits einen Augenblick vor ihr bemerkt
hatte.
Die Sonnenbarke trudelte stärker, wich von ihrer ursprünglichen Sturzbahn ab
und raste jetzt auf die gegenüberliegende Kante der Pyramidenflanke zu, dorthin,
wo Merle sich und Junipa hatte in Sicherheit bringen wollen.
Es war zwecklos umzudrehen. Stattdessen ließ Merle Junipa los, warf sich über
sie und barg ihr Gesicht unter ihren Armen. So erwartete sie den Aufprall.
Er ließ auf sich warten – zwei Sekunden, drei Sekunden –, doch als er kam, war
es, als hätte man einen mächtigen Gong gleich neben Merles Ohren geschlagen.
Der Boden vibrierte mit solcher Heftigkeit, dass sie sicher war, die Pyramide
würde einstürzen.
Das Gestein wurde ein zweites Mal erschüttert, als Vermithrax neben ihnen
269136200.006.png
aufkam, mehr Sturz als Landung, beide Mädchen mit seinen Pranken vom Boden
riss und in die Luft hob. Trotz der Glut, in der er erstrahlte, war sein Körper kühl.
Seine Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig. Die Pyramide hielt stand.
Lediglich Schneeschollen brachen von den Kanten und schlitterten ein, zwei
Stufen tiefer, zerstäubten zu blitzenden Kristallwolken und hüllten die Schräge
für einen Moment in einen Nebel aus Eis. Erst nachdem sich die Schneelawinen
gesetzt hatten, konnte Merle erkennen, was aus der Barke geworden war.
Die Goldsichel lag auf einer der oberen Stufen, nur ein Stück über der Stelle, an
der noch vor Sekunden Merle und Junipa gekauert hatten. Das Gefährt war
seitlich aufgekommen, eng an der Wand der nächsthöheren Stufe. Aus der Luft
konnte Merle nur einen geringen Schaden erkennen, ein Loch an der Oberseite,
das Vermithrax in den Rumpf gerissen hatte.
„Setz uns wieder ab, bitte“, sagte Merle zu dem Löwen, atemlos zwar, aber
zugleich so erleichtert, dass sie spürte, wie neue Kraft sie durchströmte.
„Zu gefährlich.“ Der Raubtieratem des Löwen bildete in der eiskalten Luft weiße
Dunstwolken.
„Komm schon. Willst du nicht wissen, was in der Barke ist?“
„Ganz bestimmt nicht!“
„Mumienkrieger“, meldete sich die Fließende Königin in Merles Kopf zu Wort,
unhörbar für die beiden anderen. „Ein ganzer Trupp davon. Und ein Priester, der
die Barke mit seiner Magie in der Luft gehalten hat.“
Merle warf einen Blick zu Junipa hinüber, die an Vermithrax’ zweiter
Vorderpranke baumelte. Ihre Lippen bewegten sich.
„Junipa?“
„Was ist?“, fragte Vermithrax.
„Ich glaube, sie wacht auf.“
„Mal wieder genau zum richtigen Zeitpunkt“, meckerte die Königin. „Warum
passieren diese Dinge eigentlich immer gerade dann, wenn man sie nicht
gebrauchen kann?“
Merle ignorierte die Stimme in ihrem Inneren. Ganz gleich, was das für sie alle
bedeuten mochte oder ob sie dadurch eine Sorge mehr haben würden, sie war
froh, dass Junipa wieder zu sich kam. Schließlich war sie selbst es gewesen, die
Junipa bewusstlos geschlagen hatte, und der Gedanke schmerzte noch immer.
Aber ihre Freundin hatte ihr keine Wahl gelassen.
„Falls sie noch deine Freundin ist.“ Es war nicht das erste Mal, dass die Fließende
Königin ihre Gedanken las; es war längst zur schlechten Angewohnheit
geworden.
„Natürlich ist sie das!“
„Du hast sie gesehen. Und gehört, was sie zu dir gesagt hat. So benimmt sich
keine Freundin.“
„Das ist das Steinerne Licht. Junipa kann nichts dafür.“
„Das ändert wenig daran, dass sie womöglich versuchen wird, dir wehzutun.“
Merle antwortete nicht. Sie schwebten gut zehn Meter über der nächsten
Pyramidenstufe. Allmählich begann Vermithrax’ fester Griff zu schmerzen.
„Lass uns runter“, bat sie ihn noch einmal.
„Zumindest scheint die Pyramide stabil zu sein“, gab der Löwe zu.
„Heißt das, wir sehen uns die Barke an?“
„Das hab ich nicht gesagt.“
„Aber da unten rührt sich nichts. Wenn wirklich Mumien darin sind, dann sind sie
–“
„Tot?“, fragte die Königin spitz.
„Außer Gefecht.“
„Vielleicht. Oder auch nicht.“
269136200.001.png
„Das sind wieder mal genau die Bemerkungen, die uns weiterhelfen“, sagte Merle
bissig.
Vermithrax hatte seine Entscheidung getroffen. Mit sanften Schwingenschlägen
brachte er Junipa und Merle zurück auf sicheren Boden – so sicher
viertausendjährige Pyramiden eben sind, die über einem Zugang zur Hölle
stehen.
Als Erste setzte er Merle auf einer der Steinstufen ab. Nachdem sie zum Stehen
gekommen war, nahm sie Junipa vorsichtig aus Vermithrax’ Griff in Empfang.
Junipas Lippen bewegten sich noch immer. Standen ihre Augen jetzt nicht einen
Spaltbreit offen? Merle war, als sähe sie das Spiegelglas unter den Lidern blitzen.
Langsam ließ sie ihre Freundin in den Schnee sinken. Sie brannte darauf, zur
Barke hinüberzulaufen, doch erst musste sie sich um Junipa kümmern.
Sanft tätschelte sie die Wange des Mädchens. Als ihre unterkühlten Finger die
Haut berührten, fühlte es sich an, als stieße Eis auf Eis. Sie fragte sich, wie lange
es wohl dauern würde, ehe sich die ersten Erfrierungen zeigten.
„Junipa“, flüsterte sie. „Bist du wach?“
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Vermithrax’ glühender Leib sich spannte,
bemerkte die gewaltigen Muskelstränge, die sich unter dem Obsidian wie Fäuste
ballten. Der Löwe war bereit, auf einen Angriff sofort zu reagieren. Und sein
Argwohn galt nicht allein der Sonnenbarke. Junipas Verrat hatte ihn ebenso
misstrauisch gemacht wie die Königin, nur zeigte er es nicht so offen.
Die Lider des Mädchens flatterten, öffneten sich dann zögernd. Merle sah ihr
eigenes Gesicht reflektiert in den Spiegelscherben, die Junipa statt Augäpfeln
besaß.
Sie erkannte sich kaum wieder. Als hätte ihr jemand Bilder eines
Schneemenschen gezeigt, mit eisverkrustetem Haar und weißblauer Haut.
Wir brauchen Wärme, dachte sie alarmiert. Wir sterben hier draußen.
„Merle“, kam es schwach über Junipas aufgesprungene Lippen. „Ich … Du hast …“
Dann verstummte sie wieder, hustete erbärmlich und krallte eine Hand um den
Saum von Merles Kleid. „Es ist so kalt. Wo … sind wir?“
„In Ägypten.“ Obwohl sie selbst es aussprach, erschien es Merle so absurd, als
hätte sie gesagt: auf dem Mond.
Junipa starrte sie aus ihren Spiegelaugen an, doch die glänzenden Scherben
verrieten keinen ihrer Gedanken. Damals, als der Zauberspiegelmacher
Arcimboldo sie ihr eingesetzt und das blinde Mädchen damit sehend gemacht
hatte, hatte Merle den Blick der Spiegel als kalt empfunden; doch nie war eine
solche Empfindung zutreffender gewesen als jetzt, inmitten dieser neuen Eiszeit.
„Ägypten …“ Junipas Stimme klang rau, aber nicht mehr so gleichgültig wie noch
im Inneren der Pyramide, als sie Merle überreden wollte, in der Hölle zu bleiben.
In Merle regte sich ein Hauch von Hoffnung. Hatte das Steinerne Licht hier oben
seine Macht über Junipa verloren?
Aus der Richtung der Barke ertönte ein metallischer Laut, gefolgt von einem
Knirschen.
Vermithrax stieß ein drohendes Knurren aus und wirbelte herum. Erneut erbebte
der Boden unter seinen Pranken.
An der Seite der Barke – in jener Wand, die jetzt oben lag – klappte ein Segment
aus Metall nach außen und stand einen Moment lang zitternd da wie ein
aufgerichteter Insektenflügel.
Vermithrax schob sich schützend vor die beiden Mädchen. Damit verdeckte er
Merles Sicht, sie verrenkte sich beinahe den Hals, um zwischen seinen Läufen
hindurchzuschauen.
Etwas schob sich aus der Öffnung. Kein Mumienkrieger. Auch kein Priester.
„Ein Sphinx“, flüsterte die Fließende Königin.
269136200.002.png
Zgłoś jeśli naruszono regulamin