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HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nr. 01/6553
Titel der amerikanischen Originalausgabe
SCELETON CREW
Erster Teil der Ausgabe seiner Kurzgeschichten
Deutsche Übersetzung von Alexandra v. Reinhardt
3. Auflage
Copyright © by Stephen King
Copyright © der deutschen Obersetzung 1985
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1985
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: werksatz gmbh, Freising-Wolfersdorf
Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-02134-7
Inhalt
Der Mann,
geben wollte
Seite 7
Seite 41
Seite 92
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Der Mann, der niemandem
die Hand geben wollte
Stevens servierte die Getränke, und kurz nach acht Uhr zo-
gen sich an jenem bitterkalten Winterabend die meisten von
uns damit in die Bibliothek zurück. Eine Zeitlang herrschte
Schweigen. Nur das Knistern des Feuers im Kamin, das lei-
se Klacken von Billardkugeln und das Heulen des Windes
vor den Fenstern war zu hören. Hier drinnen, in Haus 249B
der East 35 th , war es sehr warm.
Ich erinnere mich daran, daß David Adley an jenem
Abend rechts von mir saß, und links von mir Emlyn McCar-
ron, der uns einmal eine schreckliche Geschichte über eine
Frau erzählt hatte, die unter ungewöhnlichen Umständen
geboren hatte. Neben ihm saß Johanssen, sein gefaltetes
>Wall Street Journal< auf dem Schoß.
Stevens trat mit einem kleinen weißen Päckchen ein und
überreichte es ohne Zögern George Gregson. Stevens ist
trotz seines schwachen Brooklyn-Akzents (oder vielleicht
gerade deshalb) der perfekte Butler, aber seine bemerkens-
werteste Eigenschaft ist meiner Meinung nach, daß er im-
mer weiß, wem er das Päckchen geben muß, auch wenn nie-
mand danach fragt.
George, der in seinem hohen Ohrensessel saß, nahm es
ohne Proteste entgegen und starrte in den Kamin, der so
groß ist, daß man darin einen ausgewachsenen Ochsen bra-
ten könnte. Ich sah, wie sein Blick zu der in den Schlußstein
eingemeißelten Inschrift schweifte: Es kommt auf die Geschich-
te an, nicht auf den Erzähler.
Er riß das Päckchen mit seinen alten, zittrigen Fingern auf
und warf den Inhalt ins Feuer. Einen Augenblick lang leuch-
teten die Flammen in allen Regenbogenfarben, und ein lei-
ses Lachen ertönte. Ich drehte mich um und sah, daß Ste-
vens im Hintergrund neben der Tür stand. Er hatte die Ar-
me auf dem Rücken verschränkt. Sein Gesicht war völlig
ausdruckslos.
Vermutlich zuckten wir alle zusammen, als die krächzen-
de Stimme das Schweigen brach; ich jedenfalls tat es.
»Ich habe einmal miterlebt, wie in eben diesem Zimmer
ein Mann ermordet wurde«, sagte George Gregson, »ob-
wohl kein Geschworener den Mörder verurteilt hätte. Aber
zu guter Letzt verurteilte er sich selbst — und war sein eige-
ner Henker!«
Er legte eine Pause ein, um seine Pfeife anzuzünden. Sein
narbiges Gesicht wurde in bläuliche Rauchwolken gehüllt,
und er löschte das Streichholz mit den langsamen, vorsichti-
gen Bewegungen eines Mannes, dessen Gelenke stark
schmerzen. Er warf das Streichholz in den Kamin, wo es auf
der Asche des Päckchens landete. Er beobachtete, wie die
Flammen das Streichholz verzehrten. Seine scharfen blauen
Augen brüteten unter den buschigen schwarzen Brauen, die
von weißen Fäden durchzogen waren. Seine Nase war groß
und gebogen, seine Lippen dünn und fest, und seine Schul-
tern stießen fast an die Rückseite seines Schädels.
»Spann uns nicht auf die Folter, George!« brummte Peter
Andrews. »Nun erzähl schon!«
»Nur keine Hektik.« Und wir mußten uns alle gedulden,
bis seine Pfeife zu seiner vollsten Zufriedenheit brannte.
Dann faltete er seine großen, etwas gichtbrüchigen Hände
über einem Knie und begann:
»Also gut. Ich bin jetzt fünfundachtzig, und die Geschich-
te, die ich euch erzählen möchte, hat sich ereignet, als ich so
um die Zwanzig herum war. Es war jedenfalls im Jahre
1919, und ich war gerade aus dem Großen Krieg zurückge-
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