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Mond über Manhattan
Paul Auster
Mond über
Manhattan
Roman
s&k by edoc
Irrwege der Selbstfindung: Ganz auf sich allein gestellt, ohne Wohnung und
Einkommen, ein Stadtnomade, überlässt Marco Stanley Fogg sich den
Launen des Zufalls. "Paul Auster versteht sich darauf, mit erzählerischer
Intelligenz Verwirrung zu stiften, um sie aufs pfiffigste wieder aufzulösen."
ISBN 3 498 00028 4
Original: «Moon Palace»
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
1. Auflage August 1990 by Rowohlt Verlag GmbH
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
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Für Norman Schiff – zum Andenken
Einen Amerikaner kann nichts in Erstaunen setzen.
Jules Verne
ERSTES KAPITEL
Es war der Sommer, in dem zum erstenmal Menschen den
Mond betraten. Ich war damals noch sehr jung, glaubte aber an
keinerlei Zukunft. Ich wollte gefährlich leben, bis an meine
Grenzen vordringen und sehen, was mich dort erwartete. Wie
sich herausstellte, ging ich daran fast zugrunde. Nach und nach
sah ich mein Geld schwinden; ich verlor meine Wohnung; am
Ende lebte ich auf der Straße. Ohne ein Mädchen namens Kitty
Wu wäre ich wohl verhungert. Ich hatte sie erst kurz vorher
zufällig kennengelernt, doch sehe ich in diesem Zufall im
nachhinein eine Art Bereitschaft, mich durch den geistigen
Einsatz anderer Leute retten zu lassen. Das war der erste Teil.
Von da an stießen mir seltsame Dinge zu. Ich verdingte mich bei
dem alten Mann im Rollstuhl. Ich fand heraus, wer mein Vater
war. Ich wanderte durch die Wüste von Utah nach Kalifornien.
Das ist natürlich lange her, aber ich erinnere mich gut an diese
Zeit, sie ist der Anfang meines Lebens.
Nach New York kam ich im Herbst 1965. Da war ich
achtzehn; während der ersten neun Monate lebte ich in einem
Studentenwohnheim. Auswärtige Erstsemester an der Columbia
mußten auf dem Campus wohnen, aber gleich nach Abschluß
des Semesters zog ich in ein Apartment in der West 112th
Street. Dort lebte ich die nächsten drei Jahre bis zu dem Tag, an
dem ich am Ende war. In Anbetracht meiner üblen Lage war es
ein Wunder, daß ich mich dort überhaupt so lange gehalten
habe.
Ich teilte mir diese Wohnung mit über tausend Büchern. Sie
hatten ursprünglich meinem Onkel Victor gehört, der sie im
Lauf von etwa dreißig Jahren nach und nach gesammelt hatte.
Kurz bevor ich aufs College ging, bot er sie mir spontan als
Abschiedsgeschenk an. Ich sträubte mich nach Kräften, aber
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Onkel Victor war ein sentimentaler und großmütiger Mensch, er
ließ sich nicht zurückweisen. «Geld kann ich dir nicht geben»,
sagte er, «und gute Ratschläge auch nicht. Nimm die Bücher,
mir zuliebe.» Ich nahm sie, öffnete aber in den nächsten
anderthalb Jahren keinen der Pappkartons, in die sie verpackt
waren. Ich hatte vor, meinen Onkel zu überreden, die Bücher
zurückzunehmen, und bis dahin sollten sie unversehrt bleiben.
Die Kartons erwiesen sich dann als recht nützlich. Die
Wohnung in der 112th Street war unmöbliert, und anstatt mein
Geld für Dinge zu verschwenden, die ich nicht wollte und mir
auch nicht leisten konnte, machte ich aus den Kartons etliche
«imaginäre Möbelstücke». Das Ganze glich ein wenig einem
Puzzlespiel: die Kartons in verschiedenen Anordnungen zu
gruppieren, in Reihen aufzustellen, aufeinanderzustapeln, sie so
lange umzubauen, bis sie schließlich Haushaltsgegenständen zu
ähneln begannen. Sechzehn dienten als Gestell für meine
Matratze, zwölf wurden zu einem Tisch, sieben bildeten einen
Sessel, zwei einen Nachttisch und so weiter. Dieses trübe
Hellbraun allenthalben wirkte freilich recht monochrom, doch
konnte ich nicht umhin, auf meine Findigkeit stolz zu sein.
Meine Freunde fanden es ein wenig seltsam, hatten jedoch
inzwischen gelernt, bei mir mit Seltsamem zu rechnen. Bedenkt,
wie befriedigend es ist, erklärte ich ihnen, wenn man ins Bett
kriecht und weiß, daß man auf der amerikanischen Literatur des
neunzehnten Jahrhunderts träumen wird. Stellt euch das
Vergnügen vor, sich zum Essen hinzusetzen, und unter dem
Teller lauert die komplette Renaissance. In Wahrheit hatte ich
keine Ahnung, welche Bücher in welchen Kisten waren, aber
damals war ich ganz groß im Geschichtenerfinden, und mir
gefiel der Klang solcher Sätze, auch wenn sie falsch waren.
Meine imaginären Möbel blieben fast ein Jahr lang
unangetastet. Dann aber starb im Frühjahr 1967 Onkel Victor.
Sein Tod war ein schrecklicher Schlag für mich; in mancher
Hinsicht war es der schlimmste Schlag, den ich je einstecken
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mußte. Onkel Victor war nicht nur der Mensch, den ich am
meisten geliebt hatte, er war auch mein einziger Verwandter,
meine einzige Verbindung zu etwas, das über mich selbst
hinausging. Ohne ihn fühlte ich mich beraubt, vom Schicksal
gezeichnet. Wäre ich auf seinen Tod irgendwie vorbereitet
gewesen, hätte ich mich wohl leichter damit abfinden können.
Doch wie bereitet man sich auf den Tod eines
zweiundfünfzigjährigen Mannes vor, der zeitlebens bei guter
Gesundheit gewesen ist? Mein Onkel fiel eines schönen
Nachmittags Mitte April einfach tot um, und von da an änderte
sich mein Leben, begann ich in eine andere Welt zu entgleiten.
Von meiner Familie gibt es nicht viel zu berichten. Das
Personenverzeichnis war klein, und die meisten hatten nur kurze
Auftritte. Bis zum elften Lebensjahr lebte ich bei meiner Mutter,
dann wurde sie bei einem Verkehrsunfall getötet, in Boston von
einem Bus überfahren, der bei Schneefall ins Schleudern geraten
war. Ein Vater kam in dem Stück nie vor, es hatte immer nur
uns beide gegeben, meine Mutter und mich. Daß sie ihren
Mädchennamen benutzte, bewies, daß sie nie verheiratet
gewesen war, doch erfuhr ich von meiner unehelichen Geburt
erst nach ihrem Tod. Als kleiner Junge kam ich nie auf die Idee,
derlei zu hinterfragen. Ich war Marco Fogg, meine Mutter war
Emily Fogg, und mein Onkel in Chicago war Victor Fogg. Wir
alle hießen Fogg, und es schien mir vollkommen logisch, daß
Leute aus ein und derselben Familie denselben Namen trugen.
Später erzä hlte mir Onkel Victor, sein Vater habe ursprünglich
Fogelman geheißen; dieser Name sei aber von jemandem im
Einwanderungsbüro auf Ellis Island zu Fog verstümmelt
worden, Fog mit einem g, wie Nebel, und dies habe der Familie
in Amerika als Name gedient, bis 1907 das zweite g hinzugefügt
worden sei. Fogel bedeute Vogel, erklärte mir mein Onkel, und
mir gefiel die Vorstellung, ein solches Wesen in meinem Innern
aufgehoben zu wissen. Ich malte mir aus, irgendeiner meiner
kühnen Vorfahren habe tatsächlich fliege n können. Ein Vogel,
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