Bernhard Thomas - Goethe schtirbt (Erstveröffentlichung).rtf

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Erstveröffentlichung: Die Zeit (Nr

Erstveröffentlichung:  Die  Zeit (Nr.  12,  19. März  1982, Seite 41-42).  Der  Wiederabdruck  in der   "Digitalen Bibliothek"  der WITTGENSTEIN  STUDIES 1/97  erfolgt mit  freundlicher Genehmigung der THOMAS BERNHARD NACHLASSVERWALTUNG  GmbH - Dr. Peter Fabjan - in  Gmunden  (Österreich). Herausgegeben  und bearbeitet  für die "Digitale Bibliothek"  von Josef G.F.  Rothhaupt. Offensichtliche Fehler im  Text der  Erstveröffentlichung wurden entsprechend der Wiederveröffentlichung   des Textes  "Goethe  schtirbt" in Thomas Bernhard: Ein  Lesebuch,  Frankfurt 1993, Seite 36-48  verbessert (nämlich: "Morgenübung,   mit"   statt "Morgenübung  mit"; "aber, ebenso  wie" statt "aber  ebenso  wie"; "standen!), Goethe" statt "standen!) Goethe";  "nahm, und   eine"  statt "nahm   und eine"; "Goethe vertraute ihm, Riemer,   vieles über Kräuter,  aber  auch über  Eckermann  und  die andern   an, das diese"   statt "Goethe vertraute  ihm,  Riemer,  Vieles   über Kräuter,  aber  auch über Eckermann  und die Andern  mit,  das diese"; "haben, der  Genius" statt "haben der Genius"; "hat!),  habe Goethe" statt "hat!) habe Goethe" und "Male,  weil er" statt  "Male weil er").   Jedoch die dort   wiederum enthaltenen offensichtlichen  Fehler wurden nicht übernommen (nämlich: "Immerda,  wo"  statt  "Immer da, wo"    und "Dieser aber war einen Tag, bevor" statt  "Dieser aber war, einen Tag bevor").  Kursivschrift ist in der hier gebotenen Publikation in Großschreibung wiedergegeben.   Josef G.F. Rothhaupt    ***********************************************************   THOMAS BERNHARD GOETHE SCHTIRBT         Am Vormittag  des zweiundzwanzigsten  ermahnte  mich Riemer, bei meinem für   halbzwei angesetzten Besuch  Goethes  EINERSEITS LEISE,  ANDERERSEITS DOCH    NICHT  ZU LEISE  mit  dem  Manne  zu sprechen, von welchem jetzt nurmehr noch gesagt wurde, daß er der Größte der Nation  und  gleichzeitig auch der  allergrößte  unter allen Deutschen bis heute sei, denn einerseits  höre er jetzt DAS EINE GERADEZU ERSCHRECKEND   DEUTLICH, DAS  ANDERE ABER   BEINAHE ÜBERHAUPT  NICHT MEHR und man  wisse  nicht, was  er höre und was nicht und obwohl es das Schwierigste sei  in der Unterhaltung mit dem auf  seinem Sterbebett  liegenden, die  ganze Zeit mehr  oder weniger bewegungslos in die  Richtung auf das  Fenster schauenden Genius, die angemessene Lautstärke in der eigenen Rede zu finden, sei     es  doch  möglich,   vor   allem   durch die allerhöchste Aufmerksamkeit der Sinne, in dieser  nun tatsächlich nurmehr noch traurig machenden Unterhaltung genau  jene  Mitte zu finden,  die dem jetzt für alle sichtbar an seinem Endpunkt angekommenen Geist entspreche. Er,  Riemer, habe die  letzten drei Tage mehrere Male mit Goethe   gesprochen, zweimal  in  Anwesenheit  Kräuters,  den Goethe beschworen  haben solle, fortwährend  und bis  zum letzten Augenblick,  bei  ihm zu  bleiben,  aber doch einmal allein, weil Kräuter, angeblich infolge einer  plötzlichen Übelkeit  durch das Auftreten Riemers in Goethes Zimmer, dieses fluchtartig verlassen habe, wobei  Goethe sofort, wie in  alten Tagen,  mit Riemer über DAS ZWEIFELNDE UND DAS NICHTZWEIFELNDE gesprochen habe, genau wie in den  ersten  Märztagen, in welchen,  so  Riemer, Goethe  immer wieder auf dieses Thema   gekommen sei,  immer wieder  und  immer wieder mit größter Wachsamkeit, nachdem er  sich, so Riemer, Ende Feber    fast     ausschließlich,    gleichsam   zur tagtäglichen Morgenübung, mit Riemer, ohne Kräuter also und  also ohne den von Riemer immer  wieder  als   UNGEIST bezeichneten    BELAUERER DES GOETHESCHEN  ABSTERBENS, mit  dem Tractatus logico- philosophicus beschäftigt  und überhaupt   Wittgensteins  Denken als   das  DEM SEINIGEN AUFEINMAL ZUNÄCHSTSTEHENDE,  wie DAS SEINIGE  ABLÖSENDE, bezeichnet  hatte;  daß dieses seinige gerade  da,   wo es in die Entscheidung gekommen sei zwischen dem, das Goethe zeitlebens als Hier  und dem, das   er    zeitlebens als Dort  einzusehen    und anzuerkennen    gezwungen  gewesen  sei,     schließlich  von dem wittgensteinschen   Denken  überdeckt, wenn  nicht gar VOLLKOMMEN ZUGEDECKT  hatte   werden müssen. Goethe    soll  sich in  diesem Gedanken mit der  Zeit    so aufgeregt  haben, daß   er   Kräuter beschwor,  Wittgenstein kommen zu lassen,  diesen, gleich, was es koste, aus  England nach Weimar zu   holen, UNTER ALLEN UMSTÄNDEN UND SO  BALD   ALS   MÖGLICH   und  tatsächlich   HÄTTE   Kräuter Wittgenstein      dazu  bringen   können,  Goethe    aufzusuchen, merkwürdigerweise  gerade an diesem zweiundzwanzigsten; die Idee, Wittgenstein nach Weimar einzuladen, war  Goethe schon Ende Feber gekommen, so  Riemer   jetzt, und nicht  erst   Anfang  März, wie Kräuter behauptete, und Kräuter sei es gewesen, der von Eckermann in  Erfahrung gebracht habe,  daß Eckermann unter allen Umständen eine Reise Wittgensteins  nach Weimar zu  Goethe hatte verhindern wollen;  Eckermann  habe  Goethe   über    Wittgenstein  derartig UNVERSCHÄMTES, so Kräuter,  vorgetragen, daß Goethe,  damals noch im Vollbesitz seiner Kräfte,  naturgemäß auch der physischen  und tagtäglich  noch imstande,  in   die Stadt  hineinzugehen,   also durchaus  den Frauenplan zu   verlassen und über das schillersche Haus hinaus in die Gegend von Wieland,  so Riemer, daß Goethe von Eckermann     jedes  weitere    Wort  über    Wittgenstein,   DEN VEREHRENSWÜRDIGSTEN, wie sich  Goethe wörtlich ausgedrückt  haben solle, verbeten habe, Goethe soll  zu Eckermann gesagt haben, daß seine Dienste, die  er, Eckermann, ihm, Goethe,  bisher geleistet habe  und   zwar  allezeit,  mit   diesem   Tage  und mit  dieser traurigsten  aller  Stunden der deutschen Philosophiergeschichte, null und nichtig seien, er, Eckermann,  habe sich an Goethe durch die Niederträchtigkeit, Wittgenstein  ihm gegenüber in Verruf  zu bringen, unverzeihlich schuldig  gemacht  und habe augenblicklich das  Zimmer zu verlassen, DAS   ZIMMER soll Goethe gesagt  haben, ganz  gegen  seine  Gewohnheit, denn  er  hatte sein Schlafzimmer immer  nur  DIE KAMMER  genannt, aufeinmal  hatte er,  so Riemer, Eckermann das Wort ZIMMER an den  Kopf geschleudert und Eckermann sei einen Augenblick völlig  wortlos dagestanden, habe  kein Wort herausgebracht, so Riemer, und  habe Goethe verlassen. ER  WOLLTE MIR MEIN  HEILIGSTES NEHMEN, soll  Goethe zu Riemer gesagt haben, ER, ECKERMANN, DER MIR ALLES VERDANKT, DEM ICH ALLES GEGEBEN HABE UND   DER NICHTS WÄRE  OHNE  MICH,  RIEMER.   Goethe sei, nachdem Eckermann die  Kammer  verlassen  hatte,  selbst   nicht befähigt gewesen,  ein  Wort  zu sprechen,   er soll  immer  nur das  Wort ECKERMANN  gesagt  haben, tatsächlich  so   oft,  daß es   Riemer erschienen war,  als  sei   Goethe  nahe  daran,  wahnsinnig   zu werden. Aber  Goethe habe sich  dann doch  rasch  fassen und  mit Riemer sprechen können, kein Wort über  Eckermann mehr, aber über Wittgenstein. Es bedeute  ihm, Goethe, höchstes  Glück, in Oxford seinen engsten Vertrauten zu   wissen,  nur getrennt durch    den Kanal,  so Riemer,  der  mir doch  gerade in dieser  Erzählung am glaubhaftesten   schien, nicht  wie  sonst immer,  schwärmerisch, unglaubwürdig;   auf einmal  hatte    Riemers  Bericht doch   das Authentische, das ich sonst  immer an seinen Berichten  vermißte, Wittgenstein  in  Oxford,  soll  Goethe  gesagt haben,  Goethe in Weimar,   ein   glücklicher  Gedanke,   lieber  Riemer,  wer kann empfinden, was dieser Gedanke wert ist, außer ich selbst, der ich in diesem Gedanken der Glücklichste bin. Riemer unterstrich immer wieder,   daß Goethe   mehrere  Male    gesagt haben  soll,   DER GLÜCKLICHSTE.   In bezug auf  Wittgenstein in  Oxford. Als Riemer sagte IN CAMBRIDGE,   soll    Goethe gesagt  haben   OXFORD  ODER CAMBRIDGE, ES  IST DER GLÜCKLICHSTE   GEDANKE  MEINES LEBENS  UND DIESES LEBEN WAR VOLL VON  DEN GLÜCKLICHSTEN GEDANKEN. Von  allen diesen  glücklichsten   Gedanken    ist  der   Gedanke,   daß  es Wittgenstein gibt,  mein glücklichster.  Riemer habe zuerst nicht gewußt,  wie eine   Verbindung  zwischen Goethe  und Wittgenstein herzustellen sei, und er habe mit Kräuter gesprochen, dieser habe aber, ebenso wie Eckermann, von  einem Auftreten Wittgensteins in Weimar  nichts wissen wollen.  Während Goethe, wie ich selbst aus Äußerungen  Goethes mir gegenüber weiß,  Wittgenstein so bald als möglich  sehen   wollte,  sprach  Kräuter    andauernd davon, daß Wittgenstein  NICHT VOR  APRIL  kommen solle,  der   März sei der unglücklichste Termin, Goethe  selbst  wisse das nicht,  aber er, Kräuter,  wisse das,  Eckermann  habe  in  vieler Hinsicht  nicht unrecht  gehabt,  Wittgenstein  Goethe  überhaupt auszureden, was natürlich ein Unsinn  war, so Kräuter  zu mir,  denn Goethe hatte sich niemals von  Eckermann etwas ausreden lassen, aber Eckermann hatte immer  einen guten  Instinkt, so  Kräuter  zu mir, als  wir gerade an dem wielandschen  Hause vorbeigingen; Eckermann habe es an  diesem fraglichen   Tag,  an  dem  Tag,  an   welchem  Goethe unmißverständlich  nach Wittgenstein   verlangt habe,  nach   dem persönlichen   Auftreten seines Nachfolgers,  sozusagen, zu  weit getrieben, er,  Eckermann, habe ganz  einfach an diesem  Tage die Kräfte,  die  physischen  und   die  psychischen  Kräfte  Goethes überschätzt, genauso wie  seine Kompetenzen, und Goethe habe sich wegen Wittgenstein,  wegen     nichts   sonst,   von    Eckermann getrennt.  Ein   Versuch der  Frauen   unten (die  in   der Halle standen!), Goethe umzustimmen aus dem  Vorhaben, das ja schon zum endgültigen  Entschluß   geworden war,  Eckermann  tatsächlich zu verjagen und zwar  wegen  Wittgenstein für immer, was  die Frauen natürlich nicht begreifen  konnten, war fehlgeschlagen,  für zwei Tage     hatte  Goethe sich  ja,   wie   ich weiß,  überhaupt den Frauenbesuch in der Kammer  verbeten, gerade Goethe, sagte ich zu Riemer, der keinen Tag    ohne die Frauen  auszukommen   imstande gewesen ist, solange er lebt; Eckermann soll bei den Frauen unten in der  Halle  gestanden sein,  fassungslos, wie   Kräuter später sagte, die Frauen sollen ihn  sozusagen bestürmt haben, die Sache auf den   schlechten Allgemeinzustand Goethes  zurückzuführen und sie nicht  im  ganzen  Umfange ernst  zu nehmen,   nicht so ernst jedenfalls, wie  Eckermann sie im  Augenblick nahm,  und eine der Frauen,  ich weiß nicht mehr, welche  von den vielen in der Halle stehenden, sei zu Goethe   hinauf, um für  Eckermann einzutreten, aber Goethe war nicht mehr umzustimmen, er soll gesagt haben, daß er   von   keinem  jemals gelebten     Menschen  in einer solchen verletzendsten Weise enttäuscht worden sei, wie von Eckermann, er wolle ihn  niemehr sehen. Dieses  NIEMEHR Goethes sei dann in der Halle  noch oft zu  hören gewesen, auch  dann noch, als Eckermann längst  aus dem  goetheschen  Hause gewesen  und dann tatsächlich auch  nicht mehr gesehen worden  war.  Niemand weiß, wo Eckermann heute  ist.   Kräuter hat nachforschen   lassen, aber  alle diese Nachforschungen   sind  ohne   Ergebnis   geblieben.  Selbst  die Gendarmerie in Halle und Leipzig ist eingeschaltet worden und, so Riemer,  auch nach  Berlin  und  Wien  hat Kräuter Nachricht  vom Verschwinden   Eckermanns  gegeben,  so Riemer.  Tatsächlich habe Kräuter,  so Riemer, noch mehrere  Male  versucht, Goethe von dem Gedanken abzubringen, Wittgenstein  nach Weimar kommen zu lassen, und es  war   ja auch  nicht  sicher   gewesen, so  Kräuter,   ob Wittgenstein  tatsächlich nach Weimar kommt,   selbst wenn er von Goethe    eingeladen  ist,    von  dem   größten  Deutschen, denn Wittgensteins  Denken  machte diese   Sicherheit auf  alle  Fälle schwankend, so  Kräuter wörtlich,  er, Kräuter, so   Riemer, habe aber Goethe in ungemein  vorsichtiger  Weise vor einem  Auftreten Wittgensteins  in  Weimar   gewarnt,  sei  nicht  so  plump   und tatsächlich vertraulich vorgegangen  dabei wie Eckermann,  der in diesem wittgensteinschen Falle einfach zu weit gegangen sei, weil er sich dieser Sache sicher gewesen war, weil er nicht wußte, daß man  in bezug auf  die  goetheschen Vorstellungen und Gedanken ja niemals   und   in keinem Falle hatte    sicher  sein können, was beweise, daß Eckermann bis zuletzt SEINE GEISTESBESCHRÄNKUNG, DIE WIR VON ECKERMANN KENNEN,  nicht ablegen hatte können, so Riemer, aber  selbst  Kräuter  war   es   nicht gelungen,   Goethe  davon abzubringen,  Wittgenstein  nach  Weimar kommen zu  lassen. Einem solchen Geist ist kein Telegramm  zu schicken, soll Goethe gesagt haben,  einen solchen    Geist  könne  man   nicht  einfach   auf telegraphische Weise einladen, man  müsse einen lebendigen  Boten nach  England  schicken, soll  Goethe   Kräuter gegenüber  gesagt haben. Kräuter   soll nichts darauf gesagt   haben, und da Goethe entschlossen  war, Wittgenstein VON    ANGESICHT ZU ANGESICHT  zu sehen,  wie Riemer jetzt  pathetisch sagte, weil Kräuter es genau in dieser  pathetischen  Weise  gesagt  haben  soll,  mußte  sich Kräuter schließlich, so  schwer es ihm  fiel, dem  Wunsch Goethes beugen.  Goethe   soll gesagt haben,  daß,  wenn  er bei besserer Gesundheit sei, er    selbst nach Oxford oder  Cambridge   reisen würde,   um   mit  Wittgenstein  über DAS    ZWEIFELNDE  UND  DAS NICHTZWEIFELNDE  zu  sprechen,    ihm   machte  es  nichts   aus, WITTGENSTEIN ENTGEGENZUGEHEN,  auch,  wenn die  Deutschen   einen solchen   Gedanken allein  nicht   verstehen,  darüber setze  er, Goethe, sich  vollkommen hinweg, wie   er selbst sich  immer über alle Gedanken der   Deutschen hinweggesetzt habe, gerade weil  er DER Deutsche sei, was   auszusprechen ihm völlig natürlich  wäre, ICH FÜHRE GERN NACH ENGLAND AN  MEINEM LEBENSENDE, soll Goethe zu Kräuter gesagt haben, aber  meine Kräfte reichen dazu nicht  mehr aus, so bin ich gezwungen,  Wittgenstein den Vorschlag zu machen, zu mir  zu  kommen.  SELBSTVERSTÄNDLICH, soll Goethe   zu Kräuter gesagt   haben, WOHNT  WITTGENSTEIN,   MEIN  PHILOSOPHISCHER SOHN SOZUSAGEN, so Kräuter,   der sich  über die  Wörtlichkeit  dieser Aussage  Goethes verbürgt,   IN MEINEM HAUSE.    UND ZWAR IN  DEM ALLERGEMÜTLICHSTEN ZIMMER, DAS WIR HABEN. ICH LASSE DIESES ZIMMER GENAUSO AUSSTATTEN,    WIE   ICH GLAUBE, DASS   ES   WITTGENSTEIN GEFÄLLT. UND WENN   ER ZWEI TAGE BLEIBT,  WAS  SCHÖNERES KANN ICH WÜNSCHEN! soll Goethe ausgerufen  haben. Kräuter, so Riemer, soll über diese  ganz  konkreten Wunschvorstellungen Goethes  entsetzt gewesen sein. Er   habe sich  entschuldigt  und für   Augenblicke wenigstens Goethes Zimmer  verlassen, um den  Frauen in der Halle und selbst in  der Küche unten, so Riemer,  von dem Plan Goethes, Wittgenstein  in    sein   Haus    einzuladen,   Mitteilung    zu machen.   Natürlich hatten die   Weiber  nicht einmal gewußt, wer Wittgenstein   ist, soll  Kräuter  zu   Riemer  gesagt  haben, so Riemer.   Sie  dachten,   Kräuter sei  verrückt  geworden. Dieser Wittgenstein ist aufeinmal der wichtigste Mensch für Goethe, soll Kräuter  zu den Küchenweibern  gesagt  haben, worauf die ihn  für verrückt  gehalten  hatten.  Immer wieder sei   Kräuter durch das goethesche Haus gegangen und  habe  gesagt, WITTGENSTEIN IST  DER WICHTIGSTE FÜR GOETHE und alle,   die das hörten, sollen sich  an den Kopf   gegriffen  haben.  EIN ÖSTERREICHISCHER  DENKER!  soll Kräuter auch dem Arzt    gegenüber ausgerufen haben,  der  Goethe behandelte und täglich zweimal  erschien, worauf dieser Arzt (ich nenne seinen Namen nicht, damit er mich nicht verklagen kann!) zu Kräuter gesagt haben soll,  er, Kräuter, sei wahnsinnig geworden, worauf Kräuter zu  dem Arzt gesagt haben  soll, er, der Arzt, sei verrückt, worauf der Arzt zurückgesagt haben soll, Kräuter gehöre nach Bethel,  worauf Kräuter dem Arzt  gesagt haben soll,  daß ER nach Bethel gehöre undsofort. Schließlich hatte Kräuter geglaubt, Goethe   habe in   der  Zwischenzeit   sich   in  dem   Gedanken, Wittgenstein  nach  Weimar und   sogar  in sein Haus  einzuladen, beruhigt und  er sei nach einiger  Zeit wieder in  Goethes Zimmer getreten. Der Genius, so Riemer, soll Kräuter gesagt haben, stand jetzt am  Fenster und    betrachtete  eine vereiste    Dahlie  im Garten.  SEHEN SIE, KRÄUTER,  DIESE VEREISTE  DAHLIE! soll Goethe ausgerufen haben und seine Stimme  soll stark gewesen sein wie eh und je, DAS IST   DAS ZWEIFELNDE UND DAS NICHTZWEIFELNDE!  Goethe soll darauf  lange   Zeit  am Fenster  stehengeblieben sein   und Kräuter beauftragt haben, Wittgenstein  in Oxford oder  Cambridge (es sei vollkommen  gleichgültig, wo wirklich!)   aufzusuchen und einzuladen. Wie ich   glaube, ist der   Kanal zugefroren und  das heißt,   daß Sie sich   in  einen ordentlichen Pelz  einzuwickeln haben! soll  Goethe zu Kräuter gesagt  haben. Wickeln Sie sich in einen  ordentlichen Pelz ein und suchen  Sie Wittgenstein auf und laden Sie ihn für den zweiundzwanzigsten März nach Weimar ein. Es ist mein  Lebenswunsch, Kräuter, gerade an dem zweiundzwanzigsten März  Wittgenstein zu  sehen.    Ich habe keinen   anderen Wunsch mehr. Wenn Schopenhauer und Stifter noch  lebten, würde ich diese beiden mit Wittgenstein einladen,  aber Schopenhauer und  Stifter leben nicht mehr,  so lade ich allein  Wittgenstein ein. Und wenn ich es genau überlege, so Goethe am Fenster,  die rechte Hand auf den    Stock     gestützt, ist  Wittgenstein     von   allen  der größte. Kräuter  soll, so  Riemer,  Goethe auf die  Schwierigkeit aufmerksam gemacht   haben, IN DIESER KALTEN   UND UNFREUNDLICHEN JAHRESZEIT NACH ENGLAND ZU  REISEN, DURCH HALB  DEUTSCHLAND DURCH ÜBER DEN  KANAL UND  BIS NACH  LONDON  UND  WEITER.   ENTSETZLICH GOETHE!  soll Kräuter ausgerufen haben,  so Riemer, darauf Goethe mit ebensolcher Wucht:  FAHR KRÄUTER,  FAHR! Worauf Kräuter,   so Riemer in seiner  bekannten  Schadenfreude, nichts  anderes übrig blieb, als zu  verschwinden und die  Reise anzutreten. Die Frauen machten früchterliche Umstände mit ihm.  Sie schafften eine ganze Reihe von Pelzen  aus dem goetheschen Besitz  herbei, an die zwei Dutzend,  darunter auch den    Reisepelz,  den Goethe   noch  von Cornelia   Schellhorn aufbewahrt und   AUS HEILIGEM GRUND niemals getragen  hatte,   darunter,  so  Riemer,   auch  einen  Pelz der Katharina Elisabeth Schultheiss, schließlich auch noch einen, den Ernst  August einmal bei Goethe  vergessen  hatte, und gerade für den hatte   sich  schließlich Kräuter  entschieden, weil  er,  so Kräuter, so  Riemer, gerade   recht war,  bei dieser  Reise  nach England getragen  zu werden.     Schließlich war  Kräuter  binnen zweier Stunden auf dem Bahnhof und reiste  ab. Jetzt hatte Riemer Zeit bei Goethe, wie er sagte, und  Goethe vertraute ihm, Riemer, vieles über Kräuter, aber auch  über Eckermann und die andern an, das diese in kein gutes Licht brachte. So beschwerte sich Goethe, laut  Riemer,   über Kräuter   gleich  nach  dessen  Abreise nach England, daß   dieser,   Kräuter, Goethe   immer   vernachlässigt habe. Goethe erklärte sich nicht näher, auch Riemer mir gegenüber nicht,  aber   fortwährend habe Goethe  zu  Riemer  in  bezug auf Kräuter  das Wort VERNACHLÄSSIGT  gesagt.  Selbst daß Kräuter ein dummer  Mensch sei,      soll  Goethe  oft   zu  Riemer    gesagt haben. Eckermann sei NOCH  DÜMMER gewesen. Ernst August sei nicht der große Ernst August  gewesen, für den man  ihn jetzt halte. ER WAR  DÜMMER,   soll  Goethe  gesagt  haben,  GEMEINER,  ALS   MAN ANNIMMT. Ulrike soll er auch als DUMM  bezeichnet haben. Auch die Frau von  Stein und ihre Kreise. Kleist  habe er  vernichtet, was ihm nicht leid täte. Damit konnte Riemer nichts anfangen, während ich  doch zu wissen  glaube, was Goethe  meinte. Wieland, Herder, habe er immer  höher  geschätzt, als  er  sie behandelt habe.  IM WINDE KLIRREN DIE  FAHNEN,  soll Goethe  gesagt haben, WOHER  IST DAS?  Riemer hatte keine Ahnung, ich sagte, von Hölderlin, Riemer schüttelte  nur den  Kopf.  Das Nationaltheater  habe er, Goethe, ruiniert, so Riemer, soll Goethe gesagt haben, überhaupt habe er, Goethe, das  deutsche Theater   zugrunde gerichtet,  aber  darauf kommen  die Leute erst in frühestens  zweihundert Jahren. WAS ICH DICHTETE, IST DAS GRÖSSTE  GEWESEN ZWEIFELLOS, ABER AUCH DAS, MIT WELCHEM  ICH  DIE DEUTSCHE LITERATUR    FÜR EIN PAAR JAHRHUNDERTE GELÄHMT HABE. ICH WAR, MEIN LIEBER, soll  Goethe zu Riemer gesagt haben, EIN LÄHMER DER DEUTSCHEN LITERATUR.  Meinem FAUST sind sie alle auf den Leim  gegangen. Am Ende ist  alles, so groß  es ist, nur EINE AUSLASSUNG  meiner innersten Gefühle gewesen,  von allem ein Theil,  so  Riemer berichtend,  aber  in  keinem  war ich das Allerhöchste. Riemer   habe geglaubt, Goethe  spreche  über einen ganz anderen, nur nicht über sich selbst, als er zu Riemer sagte: SO  HABE ICH DIE DEUTSCHEN, DIE  DAFÜR  WIE KEINE ANDERN GEEIGNET SIND, HINTERS LICHT GEFÜHRT. ABER AUF  WAS FÜR EINEM NIVEAU! soll er  ausgerufen haben, der Genius. Ernst  und  mit gesenktem Haupt soll  Goethe, dabei  das     schillersche Portrait   auf   seinem Nachttisch betrachtet und gesagt haben:  IHN HABE ICH VERNICHTET, MIT  ALLER  GEWALT, ICH HABE IHN  GANZ  BEWUSST  ZERSTÖRT, ZUERST SIECH  GEMACHT  UND  DANN  VERNICHTET.   ER  WOLLTE EIN  GLEICHES TUN. DER ARME! EIN  HAUS AUF DER  ESPLANADE, WIE ICH EINS AUF DEM FRAUENPLAN!  WAS FÜR  EIN IRRTUM!  DER  TUT MIR LEID, soll Goethe gesagt und darauf längere  Zeit geschwiegen haben. Wie gut, sagte Riemer, daß das  Schiller  selbst nicht mehr gehört  hat.  Goethe soll das Bildnis Schillers sich vor Augen geführt und dazu gesagt haben: ES TUT  MIR  LEID UM  ALLE DIE SCHWACHEN,  DIE  DER GRÖSSE NICHT ENTSPRECHEN KÖNNEN, WEIL  SIE DEN ATEM NICHT  HABEN! Darauf soll   er das Bildnis Schillers, das   eine Freundin Wielands für Goethe gemacht haben soll, wieder auf den Nachttisch zurückgelegt haben. WAS NACH MIR KOMMT, HAT ES SCHWER, soll Goethe dann gesagt haben. In    diesen Momenten war   Kräuter  schon  weit unterwegs gewesen. Wir hörten von ihm nichts, nur noch, daß er in Magdeburg sich eine  Reliquie  von Bach  angeschafft habe,   eine Locke des Thomaskantors, die er   bei seiner Rückkehr  Goethe hatte bringen wollen.  Kräuter tut es  gut, daß  er  eine Zeit aus dem  Umkreis Goethes verschwunden ist,  sagte  Riemer. So können wir  uns ganz ungestört unterhalten, und  Goethe ist einmal ohne diesen Ungeist und Nichtmenschen. Er hat sich von Eckermann getrennt, so Riemer, er wird sich auch von Kräuter trennen. Und die Frauen, so Riemer, spielen jetzt  gar    keine  Rolle  mehr in seinem    Leben.  Die Philosophie   ist es, die Dichtkunst   nicht  mehr. Man sieht ihn jetzt öfter auf  dem Friedhof, es ist,  als suchte  er sich einen Platz  aus, immer  treffe ich  ihn  auf  dem Platze, der   meinem Geschmack nach der  beste ist. Windgeschützt, völlig  abgesondert von allen andern. Ich hatte keine Ahnung, so Riemer jetzt auf der Esplanade,  auf welcher  aufeinmal die Vormittagsruhe  eingesetzt hatte, daß Goethe in seine letzten Tage eingetreten war. Wenn ich heute abend wieder bei ihm bin,  so Riemer über Goethe, werde ich mit   ihm  weiter über  DAS  ZWEIFELNDE  UND  DAS NICHTZWEIFELNDE sprechen. WIR WERDEN DAS THEMA ORGANISIEREN, so Goethe immer, UND ES ANGEHEN  UND ZERSTÖREN.  Alles, was er   bis jetzt gelesen und durchdacht habe,  sei gegenüber dem Wittgensteinschen nichts oder WENIGSTENS BEINAHE NICHTS. Er wisse  nicht mehr, WAS ODER WER IHN AUF ODER ZU WITTGENSTEIN GEBRACHT  HABE. EIN KLEINES BÜCHLEIN MIT ROTEM  UMSCHLAG, AUS  DER   BIBLIOTHEK SUHRKAMP, sagte  Goethe zu Riemer einmal, VIELLEICHT, ICH KANN ES  NICHT MEHR SAGEN. ABER ES WAR  MEINE RETTUNG. Hoffentlich, so  Goethe zu Riemer, so Riemer, setzt    sich Kräuter    in Oxford   oder   Cambridge  durch  und Wittgenstein kommt bald. Ich  habe nicht mehr lange Zeit.  Goethe soll tagelang in der Kammer gesessen sein  und, wie Riemer meint, nurmehr   noch auf Wittgenstein  gewartet haben.   Es  ist so, er wartet nurmehr noch auf Wittgenstein, welcher für ihn der und das Höchste  ist,  so   Riemer.  Den  TRACTATUS   hat   er  unter dem Kopfpolster     liegen.      DIE  TAUTOLOGIE      HAT       KEINE WAHRHEITSBEDINGUNGEN, DENN   SIE IST BEDINGUNGSLOS WAHR;  UND DIE KONTRADIKTION IST UNTER KEINER  BEDINGUNG WAHR, soll er,  Goethe, Wittgenstein  zitierend, oft in diesen   Tagen gesagt haben.  Aus Karlsbad sollen Wünsche für seine Genesung  gekommen sein von der Kurverwaltung, auch aus  Marienbad und aus  dem schönen Elenbogen schickte  man Goethe  ein Glas,   auf   welchem er zusammen   mit Wittgenstein abgebildet   ist.  Kein Mensch   weiß,  woher die in Elenbogen   wissen,  daß Goethe und    Wittgenstein eins sind, so Riemer,  auf dem  Glas sind   sie  eins.  Ein schönes  Glas.  Aus Sizilien meldete sich ein Professor, der in Agrigent zuhause ist, mit  einer   Einladung an  Goethe,   seine  Sammlung  goethescher Handschriften zu  besichtigen. Goethe  schrieb dem  Professor, er sei  nicht mehr in  der Lage, über die  Alpen zu gehen, obwohl er IHR GLÜHEN MEHR LIEBE, ALS DAS MEERESRAUSCHEN.  Goethe hatte sich ganz  in die Korrespondenz zurückgezogen,  so Riemer, in eine Art philosophischer Abschiedskorrespondenz.  Nach   Paris  schrieb er einer gewissen Edith Lafontaine, die ihm Gedichte zur Beurteilung geschickt hatte, sie solle sich  an Voltaire wenden, dieser  habe sein    Amt,      literarische  Bettelbriefe zu      beantworten, übernommen. Der Besitzer des Hotels  Pupp in Karlsbad wandte sich an  Goethe,  ob er,  Goethe,  nicht sein  Hotel kaufen wolle, für achthunderttausend    Thaler, wie  es heißt,   ohne  Personal. Im übrigen  kam  tagaus,  tagein nur  die übliche  geschmacklose und gemeine Post  auf  den   Frauenplan, die von   den  Sekretärinnen geordnet und dann von Goethe weggeworfen wurde, nicht eigenhändig natürlich, von Kräuter oder mir, so Riemer, das beste war ja, daß wir  so  viele große  Öfen  hatten,  in die  wir diese  wertlose, aufdringliche,  vollkommen  asensible  Post  werfen konnten. Ganz Deutschland glaubte auf einmal, sich  brieflich an Goethe  wenden zu können,  ausnahmslos. Eckermann trug   jeden Tag riesige Körbe voller Post  zu den diversen Öfen.   So heizte Goethe  die meiste Zeit mit der  Post ein, die er bekam  in den letzten Jahren. Aber zurück  zu Wittgenstein. Kräuter   war,   wie mir jetzt    Riemer berichtete, tatsächlich bis zu Wittgenstein gekommen. Dieser aber war,    einen   Tag bevor  Kräuter    ihn    aufsuchte, an  Krebs gestorben. Er, Kräuter, so Riemer, habe Wittgenstein nurmehr noch aufgebahrt  gesehen. Einen  hageren  Menschen  mit  eingefallenem Gesicht.  In der   Umgebung  von Wittgenstein,   so habe  Kräuter berichtet, habe niemand etwas  von Goethe gewußt. So sei  Kräuter deprimiert  wieder  abgereist. Es war jetzt   die große Frage, so Riemer,  sollte  Goethe Wittgensteins Tod mitgeteilt  werden oder nicht. Gerade in diesen Minuten, sagte  ich zu Riemer, wir gingen jetzt an dem schillerschen Haus  vorbei, waren auf dem Rückweg zu dem sterbenden Goethe, welcher  jetzt wieder ganz unter der Obhut der ihn umhegenden Frauen gestanden war, gerade in diesen Minuten hätte ich Wittgenstein vom Bahnhof  abgeholt.  Riemer schaute auf die  Uhr, während ich  folgendes    sagen wollte: keiner,   außer Goethe,     verlangte  tatsächlich  so     sehr  nach dem  Besuch Wittgensteins   in Weimar, wie   ich. Es wäre  auch  für mich ein Höhepunkt meiner Existenz  gewesen, ich sagte EXISTENZ, wo Goethe gesagt hätte LEBEN. Immer da, wo Goethe LEBEN gesagt hatte, hatte ich EXISTENZ gesagt, das war  in Karlsbad so gewesen, in Rostock, in Frankfurt, auf Rügen,  in Elenbogen.  Selbst wenn Wittgenstein und Goethe nur, sich  gegenüberstehend oder -sitzend, geschwiegen hätten die ganze Zeit und wenn auch nur die kürzeste, es wäre der schönste  Augenblick gewesen, der  sich von  mir aus denken läßt, wäre ich Zeuge gewesen.  Riemer sagte, Goethe habe den  TRACTATUS ÜBER SEINEN FAUST UND ÜBER ALLES GESTELLT, DAS ER GESCHRIEBEN UND GEDACHT   habe.  Auch  das  ist  Goethe,  sagte  Riemer. Auch ein solcher.    Als      Riemer  den letzten       Morgen,   also den einundzwanzigsten,   in  Goethes  Zimmer  getreten  sei, sagte er jetzt,  in  welchem, zu   seiner, Riemers  Überraschung,  Kräuter gestanden  war,   der dem  in  seinem Bette   auf vier von Ulrike bestickten Polstern unter seinem  Kopf schon wie nurmehr noch auf die öffentliche Repräsentation hin aufgebahrten Goethe gerade mit hocherhobener  rechter,   ein wenig verkrüppelter  Hand  und drei geradezu fanatisch    ausgestreckten Fingern  mit  erschreckender Rücksichtslosigkeit zu  bedeuten schien, daß ihm, Goethe, nurmehr noch DREI  Tage blieben, kein einziger   mehr (worin er, Kräuter, sich schließlich getäuscht hat!), habe  Goethe zuerst nur gesagt, daß der Gickelhahn  schuld  sei, mehrere Male soll  Goethe gesagt haben:  DER  GICKELHAHN IST SCHULD. Kräuter  soll,  noch ganz von seinem Englandauftrag  hergenommen, so Riemer, ein  Leinentuch in kaltes  Wasser getaucht haben, welches in  einem Lavoir auf einem kleinen weißgestrichenen  Küchensessel  am Fenster gestanden  sei und das Leinentuch solange über dem Lavoir ausgedrückt haben, daß es Riemer wie eine Ewigkeit vorgekommen sei, eine von Kräuter, so Riemer,   tatsächlich  ungeheuerlich   in    die  Länge  gezogene Zeit. Während Kräuter das  Leinentuch über dem Lavoir ausdrückte, soll Goethe, schon ganz  schwach,  so  Riemer, durch  das  offene Fenster in den Garten  hinausgeschaut haben, während  er, Riemer, die  ganze Zeit unter   der Tür der goetheschen Kammer  gestanden sei. Goethe zu sagen, daß Wittgenstein nicht komme, habe er nicht die Kraft gehabt, so Riemer, und auch  Kräuter hütete sich davor, Goethe diese entsetzliche  Mitteilung  zu machen, nie hätten  sie beide gesagt, Wittgenstein sei längst  TOT. Und obwohl den Leuten um Wittgenstein Goethe unbekannt war, hatte Kräuter, um Goethe zu schonen, mehrere Male, weil er  danach gefragt worden war, Goethe geantwortet: ALLE KENNEN GOETHE,   ALLE. Darauf sei Goethe  immer recht angenehm berührt gewesen. Goethe  habe Riemers Eintreten in die Kammer zuerst nicht bemerkt gehabt  und ganz ruhig zu Kräuter gesagt, daß,  wenn er jetzt bestimmen  könne, wen von  allen, die ihm IN SEINEM LEBEN  (nicht: IN SEINER EXISTENZ!) begegnet seien, tatsächlich von allen, er sich jetzt  an seinem Bett wünschte, er nur den Namen ECKERMANN  aussprechen könne, was uns, Kräuter  und mich, so Riemer, naturgemäß überraschte. Bei dem Namen Eckermann, den  Goethe aufeinmal wieder  ganz  ruhig ausgesprochen habe, sei Kräuter erschrocken und habe Goethe  den Rücken gekehrt. Mir  war diese Bemerkung als solche wie die eines Umnachteten vorgekommen, so  Riemer jetzt. KRÄUTER, IST NICHT  RIEMER DA?  hat dann Goethe plötzlich  gesagt,  worauf Goethe  einen  Blick auf mich geworfen hat,  so Riemer, aber anders als  sonst. Mir war klar, daß dieser zweiundzwanzigste der letzte  Tag  Goethes sei. Acht  Tage  waren seitdem vergangen, daß Wittgenstein  gestorben war. Nun auch  er, habe   ich  gedacht.  Kräuter gestand mir    später, auch er habe diesen Gedanken in  diesem Augenblick gehabt. Kräuter hat  darauf Goethe    wieder sofort das  naßkühle   Leinentuch  auf die Stirn gedrückt, AUF DIESE ABSTOSSENDE THEATRALISCHE ART, so Riemer, DIE WIR VON  KRÄUTER KENNEN.   UND  AUCH VON ECKERMANN.   Darauf,  so Riemer, habe Goethe gesagt, daß er, indem er sich so groß gemacht habe, wie er   jetzt sei, alles andere  neben  sich und  um  sich vollkommen vernichtet habe. Er  habe Deuschland in Wahrheit nicht erhöht, sondern vernichtet. Aber   die Augen der Welt  seien  für diesen Gedanken blind. Er, Goethe,  habe alle an sich gezogen, um sie  zu  zerstören,  im tiefsten   Sinne   unglücklich zu machen. Systematisch.  DIE DEUTSCHEN VEREHREN  MICH, OBWOHL ICH IHNEN WIE KEIN ZWEITER SO  SCHÄDLICH BIN AUF JAHRHUNDERTE. Kräuter verbürgt sich,  daß Goethe   diesen  Ausspruch GANZ RUHIG   getan hat. Ich hatte, so Riemer,  die ganze Zeit den  Eindruck, Goethe habe sich einen Schauspieler des Nationaltheaters zu seinem letzten Pfleger bestellt, indem er sich  letztenendes an Kräuter gebunden hat und ich dachte, während er Kräuter  so an  der Seite Goethes  agieren sah,  wie er das  Tuch  auf Goethes   Stirn drückte, wie  Kräuter dastand, als Goethe sagte: ICH  BIN DER VERNICHTER DES DEUTSCHEN! und gleich darauf: ICH  HABE ABER KEIN SCHLECHTES  GEWISSEN!, wie er Goethes  Hand, weil dieser  selbst  nicht mehr die  Kraft dazu gehabt  hatte,   etwas höher  auf  die   Bettdecke legte, seinem, Kräuters Ästhetizismus entsprechend,  so Riemer, aber doch  nicht so, daß beide   goetheschen Hände zusammengelegt wurden  wie  bei einem Toten, was selbst  Kräuter als geschlacklos empfunden haben mußte, wie   Kräuter  schließlich  mit   einem   Taschentuch eine Schweißperle aus   Goethes Gesicht  wischte  und überhaupt   eine solche widerwärtige Betulichkeit an  den   Tag legte, die    ihn, Riemer, wenigstens treffen,  wenn nicht tödlich verletzen sollte; daß möglicherweise gerade zu einem Geist  wie Goethe, den wir als groß, ja wahrscheinlich sogar als den größten begreifen müssen am Ende, ein solcher verkommener Kräuter paßte, der die Niedertracht und die  Scharlatanerie  seiner selbst  gerade   an einer solchen Geistesgröße wie  Goethe, wenn sie  an ihrem Ende angekommen ist, auf  das Entschiedenste  zu steigern noch   befähigt sei. Bis zum äußersten Grade des Verrats,  so Riemer. NICHT IM ELEFANTEN WOHNT WITTGENSTEIN, soll Goethe  immer noch gesagt  haben, auch  wie er selbst  schon auf  dem Totenbett  gelegen war,  SONDERN IN MEINEM HAUS,  GLEICH NEBEN MEINER   KAMMER. ES GIBT  KEINEN ANDERN,  DER DAFÜR GEEIGNET IST. ICH WILL WITTGENSTEIN  NEBEN MIR! soll Goethe zu Riemer   selbst gesagt haben. Als Goethe   dann starb, eben am zweiundzwanzigsten,     dachte   ich   sofort,   was  für    eine Schicksalsfügung, daß Goethe genau für diesen Tag Wittgenstein zu sich   nach  Weimar    eingeladen      hatte.  Was    für     ein Himmelszeichen.  DAS  ZWEIFELNDE UND   DAS  NICHTZWEIFELNDE, soll Goethe als VORletztes gesagt  haben. Also einen wittgensteinschen Satz. Und kurz darauf  jene  zwei Wörter, die seine  berühmtesten sind:  MEHR LICHT! Aber  tatsächlich hat Goethe als Letztes nicht MEHR LICHT, sondern MEHR NICHT! gesagt. Nur  Riemer und ich - und Kräuter - waren dabei  anwesend.  Wir,  Riemer, Kräuter  und  ich einigten uns darauf, der Welt mitzuteilen, Goethe habe MEHR LICHT gesagt als   Letztes und nicht   MEHR NICHT! An dieser   Lüge als Verfälschung leide ich,  nachdem Riemer und Kräuter längst  daran gestorben sind, noch heute.  

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