michelle zink -_die_prophezeiung_der_schwestern.rtf

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Die Prophezeiung der Schwestern


             

Inhaltsverzeichnis

 

Cover

 

Titel

 

Widmung

 

 
Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

 
Danksagung

 

Copyright

 

 


             

Für meine Mutter, die auf mich gewettet hat.

 

 


             

1

 
 
 
 
Der Regen scheint mir angemessen; vielleicht beachte ich ihn deswegen nicht. Er strömt wie ein dichter Vorhang aus silbrigen Fäden auf den frühwinterlichen Boden nieder. Nichtsdestotrotz stehe ich bewegungslos neben dem Sarg. Ich stehe rechts von Alice. Ich stehe immer rechts von Alice, und oft frage ich mich, ob es auch im Leib unserer Mutter so war, ehe wir schreiend in die Welt hinausgepresst wurden, eine nach der anderen. Mein Bruder Henry sitzt zwischen Edmund, unserem Chauffeur, und Tante Virginia. Henry kann nur sitzen; seine Beine sind nutzlos. Es kostete einige Mühe, Henry und seinen Stuhl zu dem Friedhof auf dem Hügel zu tragen, damit er unserem Vater das letzte Geleit geben kann. Tante Virginia beugt sich vor und spricht uns durch den trommelnden Regen an. »Kinder, wir müssen gehen.« Der Reverend ist längst fort. Ich kann nicht sagen, wie lange wir schon hier vor diesem Hügel aus Dreck verharren, wo der K?rper meines Vaters liegt, denn ich stehe unter James? Regenschirm, der mir wie eine kleine, sch?tzende Welt vorkommt, ein Prellbock zwischen mir und der Wahrheit. Alice bedeutet uns zu gehen. »Lia, Henry, kommt jetzt. Wir kehren zurück, wenn die Sonne scheint. Dann legen wir frische Blumen auf Vaters Grab.« Ich bin es, die zuerst geboren wurde, wenn auch nur wenige Minuten, aber niemand hat je daran gezweifelt, dass Alice das Sagen hat. Tante Virginia nickt Edmund zu. Er nimmt Henry in seine Arme, dreht sich um und geht zum Haus zurück. Über Edmunds Schulter hinweg fängt Henry meinen Blick ein. Henry ist erst zehn, aber er ist viel klüger als die meisten Jungen in seinem Alter. Ich sehe den Verlust unseres Vaters in den dunklen Ringen unter meines Bruders Augen. Ein schmerzhafter Stich dringt durch die Taubheit in meinem Körper und lässt sich irgendwo über meinem Herzen nieder. Alice mag das Sagen haben, aber ich bin diejenige, die sich schon immer für Henry verantwortlich fühlte. Meine Füße wollen sich nicht rühren, wollen mich nicht von meinem Vater wegführen. Sie stehen kalt und tot auf der Erde. Alice schaut zurück. Durch den Regen schaut sie mich an. »Ich komme gleich nach.« Ich muss rufen, damit sie mich hört, und sie nickt langsam, wendet sich um und läuft den Weg entlang zurück zu Birchwood Manor. James nimmt meine behandschuhte Hand in seine. Ich sp?re, wie mich eine Welle der Erleichterung durchf?hrt, als sich seine starken Finger ?ber meiner Hand schlie?en. Er r?ckt n?her, damit ich ihn im tosenden Regen verstehen kann. »Ich bleibe bei dir, so lange du willst, Lia.« Ich kann nur nicken, schaue zu, wie der Regen in Tränen über Vaters Grabstein fließt. Ich lese die Worte, die in den Granit gemeißelt sind.  
THOMAS EDWARD MILTHORPE GELIEBTER VATER

23. JUNI 1846 - 1. NOVEMBER 1890

 
Keine Blumen. Trotz meines Vaters Reichtum ist es so gut wie unmöglich, um diese Jahreszeit - kurz vor Wintereinbruch - im Norden von New York, wo wir zu Hause sind, Blumen aufzutreiben. Und keiner von uns hatte die Kraft oder den Willen, rechtzeitig welche zu bestellen. Plötzlich schäme ich mich wegen dieser Nachlässigkeit, und ich schaue mich auf dem Friedhof unserer Familie nach etwas um, nach irgendetwas, das ich auf das Grab legen könnte. Aber da ist nichts. Nur einige kleine Steine in den Pfützen auf der Erde und dem Gras. Ich bücke mich, greife nach ein paar schmutzigen Kieseln und halte sie so lange auf meiner offenen Handfläche in den Regen, bis sie sauber gewaschen sind. Ich bin nicht überrascht, dass James genau weiß, was ich vorhabe, obwohl ich kein Wort sage. Wir sind schon unser ganzes Leben lang Freunde - und seit kurzer Zeit noch mehr als das. Er r?ckt nach, besch?tzt mich mit seinem Regenschirm, als ich vortrete, mich b?cke und die kleinen Steine aus meiner Hand zu F??en von Vaters Grabstein fallen lasse. Bei der Bewegung schiebt sich mein Ärmel zurück und entblößt ein Stück jenes merkwürdigen Zeichens, dieses seltsamen, zerklüfteten Kreises, der in den Stunden nach Vaters Tod auf meinem Handgelenk erblühte. Ich werfe James einen verstohlenen Blick zu, um zu ergründen, ob er etwas bemerkt hat. Aber das ist nicht der Fall. Ich ziehe meinen Arm in den Ärmel zurück und lege die Steine zu einer ordentlichen Reihe. Das rätselhafte Zeichen verbanne ich aus meinen Gedanken. Dort ist kein Platz für Trauer und Sorge. Und die Trauer will nicht warten. Ich trete zurück und betrachte die Steine. Sie sind weder so hübsch noch so bunt wie die Blumen, die ich im Frühling auf Vaters Grab legen will, aber sie sind alles, was ich im Moment habe. Ich nehme James’ Arm und wende mich zum Gehen, verlasse mich darauf, dass er mich nach Hause führen wird.  
Es ist nicht die Wärme im Salon, die mich dort verweilen lässt, lange nachdem der Rest der Familie sich zurückgezogen hat. Auch in meinem Zimmer gibt es einen Kamin, wie in den meisten Räumen von Birchwood Manor. Nein, ich sitze in dem dunklen Salon, der nur von dem glühenden Schimmer des erlöschenden Kaminfeuers erhellt wird, weil ich nicht den Mut habe, nach oben zu gehen. Mein Vater ist seit drei Tagen tot, und in diesen drei Tagen verstand ich es, mich zu beschäftigen. Henry musste getröstet werden, und obwohl Tante Virginia die Vorbereitungen für das Begräbnis in ihre Hände nahm, schien es mir nur richtig, sie dabei zu unterstützen. Das redete ich mir zumindest ein. Aber jetzt, in dem leeren Raum, in dem mir nur das Ticken der Kaminuhr Gesellschaft leistet, merke ich, dass ich lediglich versucht habe, mich vor diesem Augenblick zu drücken, vor dem Gang die Treppe hinauf und vorbei an dem verwaisten Zimmer meines Vaters. Vor diesem Moment, in dem ich mir selbst eingestehen muss, dass er fort ist. Ich erhebe mich rasch, bevor mich meine Nerven im Stich lassen. Ich schaue auf meine Pantoffeln und konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. So laufe ich die gewundene Treppe hinauf und durch den Korridor des Ostflügels. Während ich Alices Zimmer passiere und danach das von Henry, werden meine Augen magisch von der Tür am Ende des Korridors angezogen. Dahinter liegen die Privatgemächer meiner Mutter. Das dunkle Zimmer. Als kleine Mädchen sprachen Alice und ich oft im Flüsterton von diesem Raum, obwohl ich nicht sagen kann, warum wir ihn das »dunkle Zimmer« nannten. Die meisten der Räume von Birchwood Manor werden neun Monate im Jahr von Kaminfeuer erleuchtet, und nur diejenigen, die nicht benutzt werden, sind wirklich dunkel. Aber selbst als meine Mutter noch lebte, kam uns dieses Zimmer dunkel vor, denn hierhin zog sie sich in den Monaten vor ihrem Tod zur?ck. In diesem Zimmer entglitt sie uns jeden Tag ein wenig mehr. Ich setze meinen Weg zu meinem eigenen Zimmer fort, wo ich mich entkleide und mein Nachthemd anziehe. Ich lasse mich gerade auf dem Bett nieder und will mir das Haar bürsten, als mich ein Klopfen an der Tür aufschrecken lässt. »Ja?« Alices Stimme dringt durch die Tür. »Ich bin’s. Darf ich hereinkommen?« »Natürlich.« Die Tür öffnet sich knarrend und herein strömt ein Schwall kühler Luft aus dem ungeheizten Korridor. Alice drückt die Tür rasch wieder zu, durchquert den Raum und setzt sich neben mich aufs Bett, wie sie es früher immer tat, als wir noch Kinder waren. Unsere Nachthemden sind fast identisch, genau wie wir. Fast, aber nicht ganz. Alices Nachtgewänder müssen stets aus feinster Seide genäht sein, während mir schon seit jeher Bequemlichkeit wichtiger war als die Mode. Ich trage immer Nachthemden aus Flanell, außer im Sommer. Alice streckt die Hand nach meiner Haarbürste aus. »Lass mich das machen.« Ich gebe ihr die Bürste, wende ihr meinen Hinterkopf zu und bin dankbar, dass ich auf diese Weise meine Überraschung verbergen kann. Wir sind nicht die Art von Schwestern, die sich vor dem Schlafengehen gegenseitig das Haar b?rsten und dabei Vertraulichkeiten austauschen. Sie zieht die Bürste in langen Strichen durch mein Haar, setzt am Scheitel an und endet an den Spitzen. Wenn ich uns so in dem Spiegel über der Kommode betrachte, fällt es mir schwer zu glauben, dass jemand uns auseinanderhalten kann. Aus dieser Entfernung und im schwachen Schein des Feuers sehen wir völlig identisch aus. Unser Haar hat den gleichen kastanienbraunen Schimmer. Unsere Wangenknochen verlaufen in dem gleichen Winkel. Aber ich weiß, dass die feinen Unterschiede für alle, die uns kennen, unübersehbar sind. Da ist die Form meines Gesichts, das ein wenig runder ist, während die Konturen meiner Schwester schärfer erscheinen, und da ist auch jener ernste, in sich gekehrte Blick in meinen Augen, der das listige Glühen in ihren kontrastiert. Alice funkelt wie ein Juwel im hellen Licht, während ich brüte, grüble und mir tausend Fragen stelle. Das Feuer im Kamin knistert. Ich schließe die Augen und entspanne die Schultern, gebe mich dem besänftigenden Rhythmus der Bürste hin, die durch mein Haar gleitet. Mit der Hand glättet Alice die Strähnen auf meinem Kopf. »Erinnerst du dich an sie?« Meine Lider zucken flatternd nach oben. Das ist eine ungewöhnliche Frage, und einen Moment lang weiß ich nicht, wie ich sie beantworten soll. Wir waren erst sechs, als unsere Mutter durch einen unerkl?rlichen Sturz von der Klippe am See zu Tode kam. Henry war gerade ein paar Monate vorher geboren worden. Die ?rzte hatten bereits keinen Zweifel daran gelassen, dass der Sohn, nach dem sich unser Vater so lange gesehnt hatte, nie w?rde laufen k?nnen. Tante Virginia behauptet, meine Mutter sei nach Henrys Geburt nicht mehr dieselbe gewesen, und die Fragen, die um ihren Tod kreisen, sind immer noch unbeantwortet. Wir sprechen nicht davon, und auch nicht von der Untersuchung, die dann folgte. Ich habe nur die Wahrheit zu bieten. »Ja, aber nur schwach. Und du?« Sie zögert, bevor sie etwas sagt, fährt aber unbeirrt fort, mein Haar zu bürsten. »Ich glaube schon. Aber nur in kurzen Momenten, wie ein Aufblitzen. Ich frage mich oft, warum ich mich an ihr grünes Kleid erinnere, aber nicht daran, wie ihre Stimme klang, wenn sie uns vorlas. Warum ich deutlich den Gedichtband vor mir sehen kann, der immer auf ihrem Tisch im Salon lag, aber nicht mehr weiß, wie sie roch.« »Sie roch nach Jasmin und … Orangen, glaube ich.« »Tatsächlich?« Ihre Stimme hinter mir ist nur ein Murmeln. »Das wusste ich nicht.« Ich rücke ein wenig von ihr ab. »Jetzt bin ich an der Reihe.« Sie dreht sich um, so gehorsam wie ein Kind. »Lia?« »Ja?« »Wenn du etwas wüsstest, über Mutter … wenn du dich an etwas erinnern k?nntest, an etwas Wichtiges ? w?rdest du es mir sagen?? Ihre Stimme ist leise. Es liegt eine Unsicherheit darin, die ich von meiner Schwester nicht gewohnt bin. Mein Atem verfängt sich in meiner Kehle, scheinbar erdrückt von der merkwürdigen Frage. »Ja, natürlich, Alice. Du nicht?« Sie zögert. Das einzige Geräusch im Raum ist das sanfte, kaum hörbare Knistern der Bürste, die durch seidiges Haar gleitet. »Ich denke schon.« Ich ziehe die Bürste durch ihr Haar und erinnere mich. Nicht an meine Mutter. Nicht jetzt. Sondern an Alice. An uns. An die Zwillinge. Ich erinnere mich an die Zeit, bevor Henry geboren wurde, bevor meine Mutter in dem dunklen Zimmer Zuflucht suchte. An die Zeit, bevor Alice sich vor mir zurückzog und mir fremd wurde. Es wäre ein Leichtes, auf unsere Kindheit zurückzublicken und zu behaupten, dass Alice und ich einander nahestanden. Verklärt durch die vergangenen Jahre, erinnere ich mich an ihren sanften Atem in der Nacht, ihre Stimme, die murmelnd die Dunkelheit in unserem gemeinsamen Kinderzimmer durchdrang. Ich versuche, unsere Nähe als Trost zu betrachten, versuche, die Gewissheit zu verdrängen, dass wir schon damals verschieden waren. Aber es geht nicht. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass wir uns seit jeher misstrauisch beäugen. Dennoch - einst war es ihre weiche Hand, die ich vor dem Einschlafen umschloss, ihre Locken, die ich von meiner Schulter strich, wenn sie im Schlaf zu nah bei mir lag. »Danke, Lia.« Alice wendet sich um und schaut mir in die Augen. »Ich vermisse dich, weißt du?« Meine Wangen werden unter ihrem hartnäckigen, prüfenden Blick warm. Ihr Gesicht ist meinem ganz nah. »Ich bin hier, Alice, wo ich immer war.« Sie lächelt, aber in ihrem Lächeln liegt etwas Trauriges, Wissendes. Sie beugt sich vor und schlingt ihre dünnen Arme um meinen Körper, wie früher, als wir noch Kinder waren. »Und ich auch, Lia. Auch ich bin hier, wo ich immer war.« Sie steht auf und geht ohne ein weiteres Wort. Ich sitze im Dämmerlicht auf der Bettkante und versuche, mir ihre ungewöhnliche Traurigkeit zu erklären. Nachdenklichkeit liegt sonst nicht in der Natur meiner Schwester, aber vermutlich fühlen wir uns alle wegen Vaters Tod irgendwie verletzlich. Die Gedanken an Alice zögern den Moment hinaus, in dem ich mir mein Handgelenk anschauen muss. Ich komme mir vor wie ein Feigling, weil ich allen Mut zusammennehmen muss, um den Ärmel meines Nachthemds hochzuschieben. Um das Zeichen zu betrachten, dass erschien, nachdem mein Vater im dunklen Zimmer den Tod gefunden hatte. Als ich es endlich tue - wobei ich mir einrede, dass es egal ist, ob ich nachschaue oder nicht, weil sich dadurch an der Existenz des Zeichens nichts ?ndern wird -, muss ich mich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Nicht das Zeichen selbst auf der zarten Haut an der Unterseite meines Handgelenks ist der Grund f?r mein Entsetzen, sondern die Tatsache, dass es seit heute Morgen so viel dunkler geworden ist. Der Kreis ist viel deutlicher zu sehen, obwohl die Zacken, die den Rand unf?rmig erscheinen lassen, noch verschwommen sind. Ich kämpfe die aufsteigende Panik nieder. Es muss doch einen Ort geben, wo ich hingehen, etwas, das ich tun kann, jemanden, dem ich davon erzählen kann - aber wem könnte ich so etwas anvertrauen? Früher wäre ich zu Alice gegangen - wem sonst hätte ich all die kleinen und großen Geheimnisse meines Lebens zur Aufbewahrung geben können? Aber die wachsende Entfremdung zwischen uns kann ich nicht ignorieren. Sie gibt mir das Gefühl, dass ich mich vor meiner Schwester in Acht nehmen muss. Ich rede mir ein, dass das Zeichen von selbst verschwinden wird, dass es nicht nötig ist, jemanden mit einer solchen Kleinigkeit - wie merkwürdig sie auch sein mag - zu belasten, wenn es ohnehin in ein paar Tagen wieder verblasst. Instinktiv fühle ich, dass ich mich selbst belüge, aber trotzdem räume ich mir das Recht ein, an einem solchen Tag nicht den Glauben zu verlieren. An dem Tag, an dem ich meinen Vater begraben musste.


             

2

 
 
 
 
Das fahle Novemberlicht schiebt seine Finger durch den Raum, den Ivy gerade mit einem Kessel heißen Wassers betritt. »Guten Morgen, Miss.« Sie gießt das Wasser in eine Schüssel auf der Kommode. »Soll ich Ihnen beim Ankleiden helfen?« Ich stütze mich auf die Ellbogen. »Nein, danke. Das mache ich allein.« »Sehr wohl.« Sie verlässt mit dem leeren Kessel in der Hand den Raum. Ich werfe die Bettdecke zurück und gehe zur Kommode, verwirbele das Wasser mit einer Hand, um es abzukühlen, bevor ich mich damit wasche. Als ich fertig bin, trockne ich meine Wangen und meine Stirn ab und betrachte mich im Spiegel. Meine grünen Augen sind so tief wie ein bodenloser Brunnen und sie sind leer. Ich frage mich, ob es möglich ist, sich von innen heraus zu verändern, ob die Trauer nach außen dringen kann, durch die Adern, die Organe und die Haut, sodass alle sie sehen k?nnen. Ich sch?ttele den Kopf angesichts dieser d?steren Gedanken und sehe mein kastanienbraunes Haar, das im Rhythmus meiner Kopfbewegung meine Schultern streift. Ich ziehe das Nachthemd aus und hole Unterrock und Strümpfe aus der Kommode. Dann kleide ich mich an. Ich schiebe gerade den zweiten Strumpf über meinen Oberschenkel, als Alice, ohne anzuklopfen, ins Zimmer rauscht. »Guten Morgen.« Schwer lässt sie sich auf das Bett fallen und schaut mit jenem atemberaubenden Charme zu mir auf, den ihr keiner so schnell nachmacht. Ihr müheloser Umschwung von kaum verhohlener Bitterkeit zu Trauer und schließlich zu sorgloser Ruhe trifft mich unvorbereitet. Das sollte es nicht, denn Alices Launen waren schon immer sprunghaft. Doch ihr Gesicht verrät keine Spur der Trauer, keine Spur der Melancholie von letzter Nacht. Bis auf die Schlichtheit ihres Kleides und die Abwesenheit jeglichen Schmucks sieht sie genauso aus wie immer. Vielleicht bin ich die Einzige, die sich von innen heraus verändert. »Guten Morgen.« Ich beeile mich, den Strumpf zu befestigen, fühle mich schuldig, weil ich so lange in meinem Zimmer verweilt habe, während meine Schwester schon längst auf ist. Ich gehe zum Schrank, sowohl, um mir ein Kleid zu holen, als auch, um ihren Augen auszuweichen, die sich zu tief in meinen verschränken. »Du wirst es nicht glauben, Lia: Alle Dienstboten müssen Trauer tragen. Anweisung von Tante Virginia.« Ich drehe mich um, bemerke die Röte ihrer Wangen und einen Anflug von Erregung in ihren Augen. Ich schiebe meine Verärgerung beiseite. »In den meisten Häusern wird die Trauerzeit eingehalten, Alice. Alle liebten Vater. Ich bin sicher, dass sie ihm nur zu gerne ihren Respekt bezeugen.« »Ja, schön und gut, aber wir werden hier auf absehbare Zeit eingesperrt sein, und es ist so schrecklich langweilig. Glaubst du, dass Tante Virginia uns erlauben wird, nächste Woche wieder zum Unterricht zu gehen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fährt sie fort. »Aber dir ist das natürlich egal! Du wärst bestimmt heilfroh, wenn du Wycliffe nie mehr im Leben sehen müsstest.« Ich mache mir nicht die Mühe, ihr zu widersprechen. Es ist allgemein bekannt, dass Alice sich nach dem zivilisierten Leben in Wycliffe verzehrt, wo wir zweimal in der Woche am Unterricht teilnehmen, während ich mich dort immer wie ein exotisches Tier in einem Schaukasten fühle. Wenn ich sie in der Schule beobachte, wie sie unter den Schmeicheleien der höflichen Gesellschaft aufblüht, stelle ich mir vor, dass sie unserer Mutter ähnlich ist. Es stimmt vermutlich. Während ich Vergnügen an der Stille in Vaters Bibliothek empfinde, kann nur Alice ihre Augen funkeln lassen wie unsere Mutter.  
Wir verbringen den Tag in nahezu vollkommener Stille, in Gesellschaft des leise knisternden Kaminfeuers. Wir sind an die Einsamkeit in Birchwood gewöhnt und haben gelernt, uns innerhalb der düsteren Mauern selbst zu beschäftigen. Es ist wie an jedem anderen regnerischen Tag, nur dass die laut dr?hnende Stimme unseres Vaters fehlt, die oft aus der Bibliothek drang, und der Geruch seines Pfeifentabaks. Wir sprechen nicht ?ber ihn, noch ?ber seinen r?tselhaften Tod. Ich vermeide es, auf die Uhr zu schauen. Ich fürchte das behäbige Fortschreiten der Zeit, das umso langsamer erscheint, je öfter ich es beobachte. Und ich habe Erfolg. Der Tag vergeht schneller, als ich es erwartete. Die kurzen Unterbrechungen durch die Mahlzeiten schieben mich sanft auf die Stunde zu, in der ich mich in die Leere des Schlafs flüchten kann. Diesmal schaue ich vor dem Zubettgehen nicht auf mein Handgelenk. Ich will nicht wissen, ob das Zeichen noch da ist. Ob es sich verändert hat. Ob es tiefer oder dunkler geworden ist. Ich schlüpfe unter die Decke und versinke ohne einen weiteren Gedanken in der Dunkelheit. In befinde mich in diesem Zwischenraum, an jenem Ort, zu dem wir gleiten, ehe die Welt in Schlaf zerfällt, als ich das Flüstern höre. Zunächst ist es nur mein Name, mit dem mich die Stimme aus der Ferne lockt. Aber das Flüstern schwillt an, teilt sich in viele Stimmen, die alle hektisch murmeln, so schnell, dass ich nur gelegentlich ein einzelnes Wort erhasche. Das Flüstern wird stärker und stärker, verlangt nach meiner Aufmerksamkeit, bis ich es nicht länger missachten kann. Bis ich kerzengerade in meinem Bett sitze und die letzten geflüsterten Worte in den Höhlen meines Geistes widerhallen. Das dunkle Zimmer. Es kommt nicht gänzlich überraschend. Das dunkle Zimmer schwirrt mir im Kopf herum, seit Vater starb. Er hätte nicht dort sein sollen. Nicht ausgerechnet in dem Raum, der mehr als jeder andere die Erinnerung an meine Mutter wachruft, seine geliebte, tote Gemahlin. Und doch - in jenen letzten Momenten, ehe das Leben wie ein Hauch aus seinem Körper entwich, war er dort. Ich schiebe meine Füße in die Pantoffeln und schleiche zur Tür, lausche einen Moment lang, bevor ich sie öffne und in den Korridor hinausschaue. Das Haus ist dunkel und still. Weder über mir in den Dienstbotenquartieren noch unten in der Küche ist das leiseste Geräusch zu hören. Es muss ziemlich spät sein. All dies mache ich mir in wenigen Sekunden bewusst, ohne wirklich darüber nachzudenken. Was meine ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkt, was mir die Haare auf meinen Armen und in meinem Nacken zu Berge stehen lässt, ist die Tür am Ende des Korridors, die einen kleinen Spalt offen steht. Die Tür zum dunklen Zimmer. Es ist merkwürdig genug, dass ausgerechnet die Tür zu diesem Raum geöffnet ist, aber noch merkwürdiger ist der sanfte Lichtschimmer, der durch den Spalt scheint. Ich schaue nach unten auf das Zeichen. Es beschattet mein Handgelenk, selbst in der Dunkelheit des Korridors. Das ist die Frage, die ich mir die ganze Zeit gestellt habe, nicht wahr?, denke ich. Ob der Schlüssel zu dem rätselhaften Tod meines Vaters und der Grund f?r das Zeichen auf meinem Handgelenk im dunklen Zimmer zu finden sind. Jetzt ist mir, als rufe man mich genau zu diesem Ort, um mir die Antworten zu geben, nach denen mich so verlangt. Langsam gehe ich durch den Korridor, hebe sorgsam die Füße, damit die Sohlen meiner Pantoffeln nicht über die Holzdielen schaben. Vor der Tür ins dunkle Zimmer bleibe ich stehen. Jemand ist drinnen. Eine Stimme, leise aber drängend, kommt aus dem Zimmer. Es ist nicht das hektische Murmeln, das mich hierher rief, nicht das Wirbeln und Wimmeln von unzähligen Stimmen. Nein. Es ist die Stimme einer einzelnen Person. Einer Person, die im dunklen Zimmer flüstert. Ich wage es nicht, die Tür aufzuschieben, aus Angst, dass sie ein Geräusch verursachen könnte. Stattdessen lehne ich mich dagegen, spähe durch die Öffnung in den Raum dahinter. Es ist schwierig, durch den schmalen Spalt etwas zu erkennen. Zunächst besteht alles nur aus Umrissen und Schatten. Aber schon bald erkenne ich die Möbel, die sich unter den weißen Tüchern, mit denen sie abgedeckt sind, abzeichnen, die dunkle Masse in der Ecke, von der ich weiß, dass sie ein Schrank ist, und die Gestalt, die - umringt von Kerzen - auf dem Boden sitzt. Alice. Meine Schwester sitzt auf dem Fußboden des dunklen Zimmers. Der Schein unzähliger Kerzen hüllt ihren Körper in ein weiches gelbes Licht. Sie murmelt, fl?stert etwas, als ob sie mit jemandem sprechen w?rde, der ihr ganz nah ist, obwohl ich von meiner Position aus keine Menschenseele sehen kann. Sie kniet mit eng aneinanderliegenden Beinen da. Ihre Augen sind geschlossen und ihre Arme h?ngen seitlich herab. Ich blicke mich in dem Zimmer um, sorgsam darauf bedacht, die Tür nicht zu berühren, um sie nicht zu bewegen. Aber da ist sonst niemand. Niemand außer Alice, die, gefangen in einer merkwürdigen Zeremonie, vor sich hin murmelt. Und selbst dies, dieses düstere Ritual, das Tentakel aus Angst durch meinen Körper jagt, ist nicht das Merkwürdigste an der ganzen Situation. Nein, es ist die Tatsache, dass meine Schwester auf dem blanken Boden sitzt. Der große, abgewetzte Läufer, der in dem Raum liegt, so lange ich denken kann, ist zurückgeschlagen. Sie sitzt, so selbstverständlich, als hätte sie es schon unzählige Male getan, inmitten eines Kreises, der in den Boden geritzt ist. Ihre Gesichtszüge kommen mir im Kerzenlicht fremd vor, fast grob. Die Kälte des ungeheizten Korridors dringt durch den dünnen Stoff meines Nachthemds. Ich trete zurück. Mein Herz klopft so laut, dass ich fürchte, Alice könnte es im Inneren des dunklen Zimmers hören. Als ich mich abwende, um zu meinem Zimmer zurückzukehren, muss ich das Verlangen zu rennen niederkämpfen. Stattdessen schreite ich mit ruhigen Schritten, schließe meine Zimmertür hinter mir und klettere in die tröstende Sicherheit meines Bettes. Lange Zeit liege ich wach und versuche, das Bild der erleuchteten Alice in dem Kreis aus meinen Gedanken zu verbannen. Und ihre Stimme, die mit jemandem fl?sterte, der nicht da war.  
Am nächsten Morgen stelle ich mich in das klare Licht, das durch das Fenster strahlt, und schiebe den Ärmel meines Nachthemds nach oben. Das Zeichen ist noch dunkler geworden, der Kreis dicker und deutlicher sichtbar. Und da ist noch etwas anderes. In dem unbestechlichen Tageslicht gibt es keinen Zweifel an diesem Ding, das den Kreis selbst umkreist und die Ränder undeutlich erscheinen lässt. Ich streiche mit dem Finger über die Oberfläche des Zeichens, das sich wie eine Narbe aus meiner Haut wölbt, folge den Linien der Schlange, die sich um den Rand des Kreises windet, bis sie mit ihrem Maul ihren eigenen Schwanz verschlingt. Die Jormundgand. Nur wenige 16-jährige Mädchen würden von dieser Schlange wissen, aber ich kenne sie aus Vaters Büchern über Mythologie. Sie ist mir auf Anhieb vertraut und ängstigt mich zugleich, denn aus welchem Grund sollte sich ein solches Symbol auf meiner Haut befinden? Ich spiele kurz mit dem Gedanken, Tante Virginia davon zu erzählen, und verwerfe ihn dann wieder. Sie leidet genug unter dem Tod meines Vaters. Als unsere einzige lebende Verwandte obliegt nun ihr unser Wohlergehen, einschließlich der Pflege von Henry und der Sorge um seine zahlreichen Bed?rfnisse. Ich werde diesen Lasten keine weitere hinzuf?gen. Ich kaue auf meiner Unterlippe. Es ist mir unmöglich, an meine Schwester zu denken, ohne sie unwillkürlich auf dem Boden des dunklen Zimmers sitzen zu sehen. Ich beschließe, sie zu fragen, was sie dort getan hat. Unter diesen Umständen ist die Frage nur logisch. Und dann werde ich ihr das Zeichen zeigen. Nachdem ich mich angekleidet habe, mache ich mich auf die Suche nach Alice. Ich hoffe, dass sie keinen Streifzug über das Anwesen macht, wie sie es so gerne tut. Es wäre bequemer für mich, sie auf ihrem Lieblingsplatz auf der Veranda bei einem Sonnenbad vorzufinden, als die weitläufigen Felder und Waldstücke von Birchwood nach ihr abzusuchen. Als ich mich zum Gehen wende, fällt mein Blick auf die geschlossene Tür des dunklen Zimmers. Von hier aus sieht alles so aus wie immer. Ich kann mir fast vorstellen, dass mein Vater noch am Leben ist und in der Bibliothek sitzt und dass meine Schwester niemals in tiefster Nacht auf dem Fußboden dieses verbotenen Zimmers kniete. Und doch ist es so. Ich habe mich entschlossen, noch ehe ich es merke. Mit schnellen Schritten gehe ich den Korridor entlang. Ich zögere keine Sekunde. Stattdessen öffne ich die Tür und trete ein. Das dunkle Zimmer sieht genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe. Die Vorhänge sperren das Tageslicht aus und der Läufer liegt wieder an seinem Platz. Eine seltsame Energie pulsiert durch die Luft, eine Vibration, die mir durch die Adern zu summen scheint. Ich sch?ttele den Kopf und das Ger?usch wird schw?cher. Ich gehe zur Kommode und ziehe die oberste Schublade auf. Ich sollte eigentlich nicht überrascht sein, die Sachen meiner Mutter dort vorzufinden, aber aus irgendeinem Grund bin ich es doch. Einen Großteil meiner Lebensspanne war sie für mich nicht mehr als eine Vorstellung. Irgendwie lassen die feine Seide und die Spitze ihrer Unterröcke und Strümpfe sie mit einem Mal wirklich erscheinen. Ich kann sie fast vor mir sehen, eine Frau aus Fleisch und Blut bei ihrer Morgentoilette. Ich zwinge mich dazu, ihre Wäsche zu berühren, die Stücke anzuheben, nach etwas zu suchen, das Vaters Anwesenheit in diesem Zimmer zum Zeitpunkt seines Todes erklären würde - ein Tagebuch, einen alten Brief, irgendetwas. Ich finde nichts und wende mich den anderen Schubladen zu, durchsuche sie bis in den hintersten Winkel. Aber es ist nichts da. Nichts außer dem parfümierten Papier, mit dem die Kommode ausgeschlagen ist und das schon vor langer Zeit seinen Duft verloren hat. Ich lehne mich an die Kommode und suche mit den Augen den Raum nach möglichen anderen Verstecken ab. Ich trete zum Bett, gehe in die Hocke und lüfte die hauchzarte Tagesdecke, spähe unter das Bett. Dort ist es blitzsauber. Zweifellos machen die Dienstboten hier regelmäßig sauber. Mein Blick fällt auf den Läufer. Das Bild von Alice in dem Kreis hat sich in meinen Geist eingeritzt. Ich wei?, was ich sah, aber ich muss trotzdem nachschauen. Ich muss mich vergewissern. Ich gehe zum Läufer, und als ich den Rand erreiche, fängt mein Kopf an zu summen. Die Vibration bedrängt meine Gedanken, meine Sicht, bis ich glaube, ohnmächtig zu werden. Meine Fingerspitzen werden taub, und von meinen Füßen aufwärts steigt ein Prickeln, bis ich das Gefühl habe, dass meine Beine unter mir nachgeben. Und dann setzt das Flüstern wieder ein. Es ist das gleiche Flüstern, das ich letzte Nacht hörte, das mich zum dunklen Zimmer lockte. Aber diesmal klingt es bedrohlich, wie eine Warnung, wie ein Befehl umzukehren. Kalter Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn und ich fange an zu zittern. Nein, es ist kein Zittern. Es schüttelt mich förmlich, so sehr, dass meine Zähne aufeinanderklappern und ich vor dem Läufer zu Boden sinke. Mein Selbsterhaltungstrieb schreit mich an, befiehlt mir, wegzulaufen und das dunkle Zimmer aus meinem Gedächtnis zu streichen. Aber ich muss es sehen. Ich muss es einfach sehen. Die Hand, auf die ich blicke, bebt und zittert, greift nach dem Saum des Läufers. Das Flüstern wird lauter und lauter, bis das Summen in meinem Kopf zu einem vielstimmigen Schreien anwächst. Ich zwinge mich, nicht zurückzuweichen, packe die Ecke des Läufers mit Fingern, die kaum in der Lage sind, sich um das dünne Teppichgewebe zu schließen. Ich ziehe den Läufer zurück und das Flüstern verstummt. Der Kreis ist da, genau wie letzte Nacht. Und obwohl die Stimmen nicht mehr sprechen, reagiert mein Körper mit Krämpfen auf den Anblick des Kreises. Einen Moment lang glaube ich, ich müsse mich übergeben. Ohne den Schutz der Dunkelheit erkenne ich, dass die Kerben, wo das Holz der Dielen weggeschnitten wurde, um den Kreis zu bilden, frisch sind. Dies ist kein Überbleibsel aus der Zeit, als meine Mutter im dunklen Zimmer lebte, sondern etwas, das erst jüngst erschaffen wurde. Ich ziehe den Läufer wieder über die Einkerbungen und erhebe mich auf zitternden Beinen. Ich werde mich von meiner Entdeckung nicht in Panik aus diesem Zimmer treiben lassen. Aus dem Zimmer meiner Mutter. Entschlossen führe ich mein Vorhaben weiter aus und gehe zum Schrank, wobei ich um den Läufer herumgehe, denn meine Füße können nicht - gestatten es mir nicht -, darüber hinwegzugehen. Mit einem Ruck öffne ich die Schranktüren und unterziehe das Innere einer kurzen Prüfung, die nicht so sorgfältig ausfällt, wie sie hätte sein können. Aber das kümmert mich nicht mehr. Ich bin mir bewusst, dass ich den Raum verlassen muss. So schnell wie möglich. In dem Schrank befindet sich sowieso nichts von Bedeutung. Ein paar alte Kleider, ein Umhang, vier Korsetts. Was immer meinen Vater in dieses Zimmer trieb, bleibt genauso unerklärlich wie der Grund für Alices Anwesenheit vergangene Nacht und f?r den Sog, der mich heute hierher f?hrte. Wieder mache ich einen Bogen um den Läufer und gehe zur Tür, so schnell ich kann. Ich habe Mühe, nicht in einen Laufschritt zu fallen. Je mehr Abstand ich zwischen mich und den Läufer bringe, zwischen mich und den Kreis, umso besser fühle ich mich, wenn ich auch noch nicht wieder vollständig ich selbst bin. Ich ziehe die Tür hinter mir lauter als nötig zu. Dann lehne ich mich gegen die Wand und schlucke die Galle hinunter, die mir die Kehle hinaufgestiegen ist. Ich weiß nicht, wie lange ich hier stehe, nach Atem ringend und darum kämpfend, dass mein Körper mir gehorcht. Aber während der ganzen Zeit ist mein Geist von düsteren und angsterregenden Gedanken erfüllt.


             

3

 
 
 
 
Der Tag ist wie ein Diamant, herrlich warm, doch ohne die Hitze, die einen Aufenthalt im Freien lästig macht. Henry sitzt mit Edmund am Ufer des Flusses. Es ist einer von Henrys Lieblingsplätzen, und obwohl ich damals noch klein war, kann ich mich noch gut daran erinnern, wie der sanft abfallende Weg gepflastert wurde, der fast bis ans Wasser führt. Mein Vater ließ ihn erbauen, als Henry noch ein Baby war. Schon damals liebte er das Geräusch der Steine, die man ins Wasser wirft. Edmund und Henry sind oft in der Nähe der Terrasse zu finden, wo das Wasser wild und rauschend in seinem Bett strömt. Dort werfen sie Steinchen hinein und schließen ihre kleinen heimlichen Wetten ab, die ihnen zwar verboten sind, von Tante Virginia aber geflissentlich übersehen werden. Ich umkreise das Haus und bin erleichtert, als ich Alice auf der Veranda vor dem Wintergarten sitzen sehe. Neben der weiten, offenen Landschaft, die das Haus von allen Seiten umgibt, hält sie sich am liebsten in dem gläsernen Wintergarten auf, doch der ist von November bis M?rz wegen der K?lte abgeschlossen. W?hrend dieser Monate sitzt sie gern auf der Veranda auf einem der Liegest?hle, eingewickelt in eine Decke, selbst an Tagen, die nach meinem Empfinden ungem?tlich kalt sind. Sie hat die Beine ausgestreckt, und unterhalb ihrer Rockkante sind die Strümpfe zu sehen, was überall außerhalb der Grenzen von Birchwood ein Affront gewesen wäre. Ihr Gesicht, weich und entspannt - so ganz anders als letzte Nacht -, reckt sich der Sonne entgegen. Die Augen hat sie geschlossen. Der Anflug eines Lächelns spielt um ihre Lippen, und die Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen, ob aus Hinterlist oder innerem Frieden, v...

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