Weidenmann, Alfred - Die Fuenfzig vom Abendblatt.pdf

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Weidenmann, Alfred - Die Fünfzig vom Abendblatt
Alfred Weidenmann
Die Fnfzig vom Abendblatt
ISBN 3 7855 1766 1
¨ 1973 by Loewes Verlag, Bayreuth Umschlaggestaltung: Kajo Bierl und
Creativ Shop Druck: Poligrafici Calderara, Bologna Printed in Italy
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Abendblatt oder Nachtexpreß
Zur Straße hin machte das Abendblatt-Hochhaus mit seinen zwölf Stockwerken
durchaus den Eindruck, als habe man in den Büros für heute Schluß gemacht. Und
so verhielt es sich auch. Dafür war bei den Rotationsmaschinen im Erdgeschoß und
in dem großen viereckigen Hof hinter dem Gebäude der Teufel los.
Auf Fließbändern schoben sich die Pakete mit den druckfeuchten Zeitungen ins
Freie. Dort warteten bereits die roten Abendblatt-Lieferwagen, rollten heran,
wurden beladen und fuhren los.
Auch die rund fünfzig Jungen drüben an der Ausgaberampe brannten darauf,
endlich loszufahren. Sie hatten alle Fahrräder, deren Gepäckständer mit Zeitungen
vollgepackt waren.
Alibaba stand in seinen Blue jeans breitbeinig neben dem Fließband auf der
Rampe. Weshalb der Rothaarige von den Jungen ausgerechnet Alibaba genannt
wurde, bleibt wohl für immer ein Geheimnis.
Es war vier Minuten nach sieben. Also genau zwölf Minuten später als gestern.
»Mozart!« brüllte Alibaba. Er mußte brüllen, denn das Stampfen der
Rotationsmaschinen war bis ins Freie zu hören.
Ein schmaler, schlanker Junge meldete sich. Natürlich hieß er nicht Mozart,
sondern Klaus Verhoven. Zwei Zeitungspakete flogen nacheinander in seine
Richtung.
»Blacky!«
Das galt dem schlacksigen Negerjungen, der ziemlich weit hinten neben seinem
Fahrrad stand und in Wirklichkeit Sam hieß.
Alibaba holte erst mit Schwung aus, bevor er jetzt die Pakete mit den
gebündelten Zeitungen abschoß. Es waren zehn oder zwölf Meter von ihm bis zu
dem Schwarzen. Aber er traf mitten ins Ziel, dem Negerjungen haarscharf vor die
Brust. Sam wurde regelrecht weich in den Knien. Es war ja auch nicht viel dran an
ihm.
»Casanova!«
Jetzt war ein Junge gemeint, der beinahe genauso groß und breit wie Alibaba
war. Er hatte eine ziemlich auffallende Welle im Haar, und seinen Spitznamen
verdankte er wohl der Tatsache, daß er so ziemlich jede Woche mit einer neuen
Freundin renommierte. Das war vorerst das letzte Paket gewesen. Das Fließband
war jetzt leer und wurde von irgend jemand abgeschaltet.
Alibaba zog hörbar Luft durch die Nase und schwang sich von der
Ausgaberampe. Sein rotes Haar klebte ihm auf der Stirn. Dabei ging der Rummel
jetzt erst los! Auch sein Fahrrad war inzwischen mit einem hohen Stapel von
Zeitungspaketen beladen worden. Vor ihm schob er sich in den Sattel, hob seine
linke Hand.
»Dalli, meine Herren!« Dabei trat er in die Pedale und preschte los. Nicht ohne
den Toreromarsch aus »Carmen« zu pfeifen. Wie jeden Abend. Das gehörte dazu.
Die ganze Meute setzte sich in Bewegung. Der Pförtner an der Ausfahrt sorgte
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für freie Bahn, als er sah, daß sie auf ihn zukamen. Wie ein Hornissenschwarm
ging es mit Fahrrädern und Zeitungen vom Abendblatt-Hof in die breite Straße der
Stadt zu.
Alibaba hielt mit einem guten Meter Vorsprung die Spitze. Am
Telefunkengebäude vorbei ging es die Hafenchaussee hinunter und über die
Bogenbrücke. Hinter ihr, wo sich die Hauptgeschäftsstraße mit dem Fahrdamm
kreuzt, stand die Verkehrsampel auf Rot. Aber Wachtmeister Biller, der hier jeden
Abend Dienst tat, wußte Bescheid. Er hatte die Horde schon gesehen, als sie von
drüben zur Brücke eingebogen war. Und als die Jungen jetzt in unvermindertem
Tempo auf ihn zugeschossen kamen, schaltete er auf Grün.
Alibaba tippte grinsend und beinahe kollegial an den Schild seiner Mütze.
Dabei flog, so im Vorbeifahren, ein zusammengefaltetes Exemplar des heutigen
Abendblattes durch die Luft, und der Polizeibeamte grüßte im gleichen Augenblick
ebenfalls grinsend zurück.
Auf diese Weise bekam Wachtmeister Biller allabendlich als erster die neueste
Ausgabe des Abendblattes. Immerhin als erster in einer Millionenstadt. Das war
eine schmeichelhafte und imponierende Bevorzugung. Dafür konnte man schon
mal den Schalthebel der Verkehrsampel etwas schneller auf Grün stellen. Etwas
schneller, als es bei dem Verkehr um diese Zeit eigentlich sein müßte.
Daß Alibaba diese Abmachung mit dem Verkehrspolizisten zustande gebracht
hatte, war schon eine gute und runde Leistung. Dabei ging diese Absprache mit
Wachtmeister Biller in Wirklichkeit eine ganze Ecke weiter. Sie hatte sozusagen
noch eine Rückseite.
Da gab es nämlich auch die Ausfahrer des »Nachtexpreß«. Auch so etwa
fünfzig Mann. Ebenfalls alle auf Fahrrädern.
Sie mit der auf »Rot« gestellten Verkehrsampel möglichst lange aufzuhalten,
war zwischen Alibaba und Wachtmeister Biller genauso verbindlich abgemacht
wie die möglichst ungehinderte Durchfahrt der Abendblatt-Fahrer.
Denn darum ging es doch: Abendblatt – oder Nachtexpreß.
Am Morgen und am Mittag erschien natürlich auch noch eine ganze Menge
anderer Zeitungen. Aber am Abend gab es im Grunde nur zwei, die das Rennen
unter sich ausmachten: Abendblatt und Nachtexpreß.
Daß beide Zeitungen jeden Abend so ziemlich um die gleiche Zeit aus ihren
Rotationsmaschinen fielen, hatte natürlich einen Grund. Eine Zeitung soll immer
so schnell sein, wie es nur geht. Das heißt, daß sie die letzten, die neuesten
Nachrichten gerade noch mitbekommen muß.
Die Korrespondenten und Reporter in aller Welt wissen, daß Abendzeitungen
etwa bis fünf Uhr noch aufnahmefähig sind. Und genau bis zu diesem Zeitpunkt
ticken die Fernschreiber, knallen die Redaktionen durch die Rohrpost die letzten
Neuigkeiten auf den Tisch, kommen über den Bildfunk die letzten Fotos.
Der Weg von der Redaktion zur Setzmaschine, zum Umbruch und schließlich
zum Druck dauert eine runde Stunde. Mal ein paar Minuten weniger, mal ein paar
mehr. Aber gerade auf diese Minuten kommt es eben an.
Abendblatt und Nachtexpreß, das waren ja keine Zeitungen, die man abonnierte
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und die dann mehr oder weniger pünktlich in Briefkästen und Türschlitze gesteckt
wurden.
Es waren Zeitungen, die nur im Straßenverkauf zu haben waren. Der Absatz
ihrer riesigen Auflagen war jeden Abend wieder zum Teil davon abhängig, ob sie
rechtzeitig in die Hände der Käufer fanden. Und ihre Käufer, das waren all die
Tausende von Menschen, die abends um diese Zeit von ihrer Arbeit kamen, aus
den Werften, den Docks, den Bürohäusern – aus allen Straßenbahnen, Omnibussen
und Vorortzügen. Die meisten von ihnen hatten ihre Groschen schon griffbereit.
Und welche Zeitung ihnen zuerst unter die Augen kam, die steckten sie in ihre
Rocktasche oder falteten sie auch schon auseinander, wenn sie mit der
Untergrundbahn nach Hause fuhren. Dabei war es den meisten oft gleichgültig, ob
sie nun das Abendblatt oder den Nachtexpreß erwischten. Wenn es nur die neueste
Zeitung war.
Wer also zuerst kam, hatte gewonnen. Und wer hinterdrein hinkte, hatte keinen
Absatz mehr, blieb stapelweise liegen. Beide Zeitungen hatten natürlich ihre festen
Verkäufer. Vor allem in der Stadtmitte. Aber eine ganze Reihe von
Zeitungshändlern war auch frei. Sie verkauften einfach das Blatt, welches zuerst
ausgeliefert wurde. Genauso wie es auch die Kunden machten. Und an den
Kiosken war es auch so. Die Zeitung, die zuerst auf dem Verkaufstisch lag, war bis
zum Eintreffen der anderen im Vorteil und wurde erst einmal in größerer Anzahl
abgenommen. Die Lieferwagen bedienten besonders die Außenbezirke und die
Großhändler. Aber für die Innenstadt waren die Autos abends um die
Hauptverkehrszeit viel zu unbeweglich. Ganz abgesehen davon, daß es beinahe
unmöglich war, bei den Kiosken und Händlern jeweils Parkplätze zum Ausladen
zu finden.
Das Zentrum der Stadt mit all seinen Ecken, Einbahnstraßen und Autokolonnen
wurde beinahe ausschließlich per Fahrrad beliefert. So gab es für die Jungen vom
Abendblatt jeden Abend den gleichen Wettlauf. Jeden Abend ging es um Minuten.
Schon manches Mal, wenn Redaktion und Druckerei nicht genauso schnell
gearbeitet hatten wie die Konkurrenz, waren die Abendblatt-Jungen um so wilder
mit ihren vollbepackten Fahrrädern losgestürmt und hatten oft mit List und Tücke
doch noch den Verkauf der Auflage gerettet.
Drüben beim Nachtexpreß waren unter den Ausfahrern so ziemlich alle
Jahrgänge vertreten. Beim Abendblatt aber saßen nur Jungen im Alter von
fünfzehn bis neunzehn Jahren auf den Rädern. Es hatte sich schon oft gezeigt, daß
das ein Vorteil war. Unbestritten hatte aber auch Alibaba sein besonderes
Verdienst. Seine Zähigkeit sprang auf die ganze Horde über, und selbst in
verzweifelten Lagen war von den Jungen in ihren roten Rollkragenpullovern bis
heute noch fast immer auch der letzte Stapel Zeitungen an den Mann gebracht
worden. Aber das hatte auch noch seine anderen Gründe.
Zum Beispiel heute.
Zwölf Minuten Verspätung. Daran war nicht zu rütteln. Das waren zwölf mal
sechzig Sekunden. Verdammte Kiste, 720 Sekunden! Zum Glück war auch vom
Nachtexpreß weit und breit noch nichts zu sehen. Anscheinend war es ihm ähnlich
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ergangen. So sehr Alibaba auch immer wieder bei den Passanten, an denen er
vorbeifuhr, nach einer Zeitung suchte, noch war nichts zu entdecken. Das machte
den Rothaarigen fast übermütig.
In elegantem Bogen überholte er einen der gelben Stadtomnibusse, und erst als
er dessen Bremsen erschreckt aufquietschen hörte, wurde es ihm bewußt, daß er
vor dem zweistöckigen Ungeheuer wieder einmal etwas zu scharf eingekurvt war.
Nun kamen sie mitten ins Zentrum, und vorne an der Ecke, beim Cafe
Universal, warteten auch schon die ersten Händler. Sie standen noch alle in kleinen
Gruppen beisammen. Auch die »Freien«. Der Nachtexpreß war also wirklich noch
nicht zuvorgekommen. Trotz der zwölf Minuten!
Vor allem die Männer mit ihren roten Abendblatt-Mützen traten jetzt an den
Rand des Bürgersteiges, um als erste ihre Zeitungen in Empfang zu nehmen. Sie
standen sprungbereit, wie die Monteure einer Montagebox, wenn sie bei einem
Autorennen ihren Wagen zum Tanken oder Reifenwechsel erwarten.
Zwei der Jungen, die so ziemlich am Ende des Rudels gefahren waren,
bremsten, und sofort waren ihre Gepäckständer leer. Sie hatten ihre Räder noch
nicht wieder zur Rückfahrt gewendet, da hörten sie schon in ihrem Rücken die
ersten Ausrufer: »Abendblatt! Das neue Abendblatt!«
Vor dem Gebäude des Hotel Monopol teilte sich jetzt die Horde. Zehn oder
zwölf Jungen bogen nach rechts in die Kieler Straße ab, vier hielten vor dem Hotel,
wo sie von einer größeren Anzahl Zeitungsverkäufer erwartet wurden. Drei Jungen
überquerten den Platz in der Richtung zum Rathaus. Alibaba schoß mit dem Rest
seiner Horde weiter zum eigentlichen Mittelpunkt der City.
Die fünfzig Jungen verteilten sich immer mehr, zerflossen geradezu und
verloren sich in den Straßen, Gassen und auf den Plätzen. Schließlich war Alibaba
an der Seite eines seiner Jungen nur noch allein. Da er der Meinung war, daß ein
richtiger Boß sich seine besonderen Rechte stets auch durch besondere Pflichten zu
verdienen hätte, nahm er nämlich allabendlich die weiteste Strecke auf sich: Den
Kiosk an der Ecke des Warenhauses Emo. Hier schlug der ganze Verkehr der Stadt
zusammen wie in einer Brandung. Hier spie die Untergrundbahn ihre
Menschenmassen aus. Omnibusse und Straßenbahnlinien hatten hier ihre
Haltestelle. Vom Westen her endigte hier die Hafenchaussee, die Kieler Straße
vom Norden, und eine Menge enger Gassen mündeten in den weiten, freien Platz.
Der große Stern lag im Mittelpunkt des Zentrums wie das Führungsloch in der
Mitte einer Schallplatte.
So hoch Alibaba sein Rad auch vollpacken mochte, er konnte doch nicht allein
herbeischaffen, was an diesem Hauptverkehrspunkt allabendlich an Zeitungen
benötigt wurde. Casanova, der zweitgrößte unter den Abendblatt-Jungen, fuhr
jeden Abend mit ihm die gleiche Tour.
Was Casanova mit seinem Fahrrad heranschleppte, ging Abend für Abend an
den Kiosk des Händlers Bierbaum. Der stand heute schon wartend hinter der
offenen Tür seines Verkaufshäuschens, hatte den Rock ausgezogen und die
Daumen unter die Gummibänder seiner Hosenträger gestemmt. Bierbaum war
ziemlich beleibt, und wie er jetzt dem Jungen half, die Zeitungspakete in das
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